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Writober #3: Bait

Ich spürte es und wollte es doch nicht wahrhaben. Wie eine Maus, die dem Käse in der Falle nachsetzt und ein Fisch den Wurm am Haken nicht widerstehen kann, wollte ich diesem Gefühl nachgehen. Ich konnte die Richtung genau ausmachen, roch es förmlich, das da etwas war, etwas, das ich haben musste, etwas, das mir fehlte. Doch ich wusste auch, das ich dem nicht nachgeben durfte. So viel meiner Selbst war mir noch geblieben.

Denn sie waren wieder auf Jagd.

»Sie«, die sich Menschen schimpften, obwohl sich doch an ihrem Handeln feststellen ließ, dass nichts menschliches mehr an ihrer Art geblieben war.

Auch ich war einmal ein Mensch gewesen. War es noch. Daran musste ich mich stets erinnern, solange würden sie mich nicht bekommen.
Ich war ein Mensch, ein Mensch, ein Mensch...

Das Gefühl zog stärker. Ein süßer Duft, ein lieblicher Klang, es lockte. Ich ignorierte es, hielt mir die Ohren zu. Die fettigen Haare fielen mir vor das Gesicht, bildeten einen Vorhang, der mich vor der Außenwelt versteckte. Genau hier wollte ich bleiben, in dieser Straße, in der niemand war, außer Dreck und Unrat und all der Müll, den sie abluden, da sie nicht wussten, wo sonst hin damit. Immerhin lebte keiner von ihnen hier. Hier war nur Platz für diejenigen, die nichts mehr hatten. Eine verruchte Stadt geschafften für die Leute, die verrotten sollten.
Ich hörte ein Lachen aus der Ferne. Aha, dachte ich, die Ersten haben es also gefunden. Vielleicht sollte ich doch auch...?
Ich schnitt den Gedanken ab. Mein Körper zitterte.
Eine Falle, daran musste ich mich erinnern. Es war eine Falle.

Ich wusste nur nicht, warum sie sie aufstellten. Sie hatten uns doch schon hierher abgeschoben - die Leute, von denen sie der Ansicht waren, sie passten nicht länger in ihre Gesellschaft. Menschen wie mich, die ein paar falsche Entscheidungen getroffen hatten. Den Job verloren, dann die Wohnung. Freunde und Familie, die sich abgewandt hatten. Früher wurden wir zumindest noch in ihren Straßen geduldet - wir wurden nicht bemerkt, waren wie Luft. Sie vermieden es stets den Blick auf uns zu richten, als hätten wir eine ansteckende Krankheit. Mit ihrem Verhalten erinnerten sie uns immerzu daran, das wir nicht existierten - nicht für sie und somit für niemanden.

Doch das hatte nicht mehr gereicht. Als wäre unsere bloße Anwesenheit ein Mahnmal, derer sie sich entledigen wollten. Nun waren wir hier. Doch sie hatten uns nicht vergessen. Warum nur hatten sie uns nicht auch vergessen? Jetzt wollten sie uns auch noch ausräuchern.

Ich war aufgestanden, stützte mich mit einer Hand an der rauen Steinwand ab. Dieses Gefühl... ich konnte mich dem kaum verwehren. Vielleicht war es in Wahrheit ein großes Geschenk? Nur einmal vorsichtig vorbeisehen... was konnte es schaden? Herz und Verstand in mir fühlten sich hin- und hergerissen. Ich wusste, ich sollte dem Ruf nicht folgen und doch bemerkte ich, wie ich schließlich einen Fuß vor den anderen setzte. Wackeligen Schrittes. Ich war ein Mensch, ein Mensch. Solange ich mich daran festhielt, konnte mir nichts passieren. Daran musste ich glauben. Wie seltsam, das mir noch ein Fünkchen Hoffnung verblieben war, in dieser Stadt, in der eine solche doch sonst als verloren galt.

Dann sah ich es.

Es war ein Herz. Ein gigantisches, menschliches Herz. Oder zumindest hatten sie diese Form gewählt.
Wie ironisch. Verbannt von der Gesellschaft, die uns als unter ihrem Niveau einstufte, die uns mit Verachtung strafte und uns jegliche Liebe und Zuneigung raubte.
Genau damit lockten sie uns. Sie wussten, was uns fehlte. Das, wonach wir alle lechzten, egal in welcher Form, egal ob wir es wahrhaben wollten, egal welcher Klasse wir angehörten:
Liebe zu geben und Liebe zu erhalten.
Es war der Schlüssel. Der perfekte Köder.

Ich sah Menschen wie mich, Wesen die nur noch ein Schatten ihres früheren Selbst waren. Die meinen aßen von dem Herz, teilten, lachten, unterhielten sich. Alles Dinge, die wir einst gelebt hatten – Dinge, die wir zurückhaben wollten. Es war ein Rausch – eine unnatürliche Welle an Freundlichkeit und Glück, die nicht in diese verdorbene Straßen passen wollte.

Ich holte tief Luft. Könnte ich dazu stoßen? Nur einmal davon kosten, nur einmal zurückgewinnen, was ich einst gekannt? Noch einmal Mensch sein. Ich wusste nicht was es war, was sie uns anboten, ja, förmlich auf dem Servierteller präsentierten, doch plötzlich war es mir einerlei.

Es folgten weitere Gestalten, heruntergekommen und zielgetrieben. Immer mehr. Doch so viel, ja, da war von diesem wunderschönen Herz gar nichts mehr übrig. Ich sollte mich beeilen.

Mein Körper stolperte mehr vorwärts, als das er ging. Ich bat um ein Stück, ein Stück der Liebe, der Zuneigung, der Zärtlichkeit. Niemand hörte mich. Oder wollte mich hören. Es waren so viele hier. Wo kamen all die anderen nur auf einmal her? Ich rangelte mich weiter durch, stieß irgendwann an. Stimmen wurden laut, Beschimpfungen, Flüche. Bitte. Nur ein kleines Stück. Warum dürft ihr, aber ich nicht? Tränen schossen mir in die Augen. Wie seltsam, ich dachte, ich hätte sie längst verloren, wie ich alles verloren hatte. Aus meiner verschleierten Sicht sah ich nun, das kaum noch etwas übrig war. Doch halt – in ihren Händen, in den Händen der anderen. Was veranschlagte der Kerl dort vorne auch so einen derart großen Anteil? Und die Göre da drüben hielt sogar zwei! Ich wurde wütend und verstand nicht einmal wieso. Doch was ich sah, sahen andere ebenso und nun gingen wir einander an. Wir, die wir nichts mehr hatten außer den Trost, nicht alleine zu sein. Wir beschuldigten uns nun, wurden laut, stahlen voneinander. Denn man hatte uns einen Schatz angeboten – ein Hauch von Liebe. Doch die Lüge hinter diesem Schein erkannten wir nicht.
Ich bekam ein Stück Herz in meine Hände, krallte mich daran fest, wollte es nie wieder loslassen. Ich lag längst am Boden, spürte Tritte, Mengen, die über mich hinweg liefen, Fingernägel, die über meine Haut kratzten, denn die anderen wollten es mir wieder wegnehmen. Nein, nein, nein. Ich sah nichts mehr. Dann atmete ich nicht mehr. Doch das Herz, das hielt ich bis zum Schluss umklammert.

 

Diejenigen, die sich Menschen nannten, legten nicht selbst Hand an. Sie mussten nur einen Köder auslegen und warten. Warten, bis der Moment kippte und Habsucht die Oberhand gewann – es war nur natürlich. Es war auch gar nicht notwendig mehr zu tun, denn dafür sorgten wir selbst – für unseren desaströsen Untergang.
Ich verstand nur nie, warum? Sie sahen doch längst weg, verbannten uns aus ihren Köpfen, aus ihrer Welt, diejenigen, die alles hatten und die sich doch fürchteten, all das zu verlieren.
Inwiefern unterschieden sie sich dann noch von uns? Und wo, bei aller Liebe, gab es hier noch Menschlichkeit?

Inktoberbeitrag eines goldenen Herzes, nachdem sich blasse Hände ausstrecken.
Inktoberbeitrag von laviride (c)

Anne ist eine  gute Freundin von mir und ich liebe ihre Inktoberbeiträge! Dieses Bild hat mich auf jeden Fall dazu inspiriert, den Beitrag zu verfassen, also unbedingt einmal bei ihr vorbeisehen <3 [Twitter | Instagram]

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