Kurzgeschichten


Der Tag, an dem ich eine Leiche fand

Es ist spät. Im Grunde genommen ist es genau so spät, wie es hätte sein sollen, doch dafür, dass ich unverhofft eine ganze Stunde früher losfahren musste, ist es spät. Das Hin und Her mit der Deutschen Bahn hat mir längst wieder den letzten Nerv geraubt. Anfangs habe ich noch gemütlich gelesen, seit Nürnberg vertreibe ich mir die Zeit nur noch mit kurzweiligen TikToks. Ich sehe auf die Anzeige, als der Schaffner eine Durchsage macht. Verspätung wieder aufgeholt, wer hätte das gedacht? Das heißt, ich bekomme meinen Anschlusszug doch noch –  bin ich froh, wenn ich zu Hause bin!

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Begegnung in der Bucht

Als die sanften Melodien in weiter Ferne verhallten und ihm stattdessen der Wind durch die Haare fuhr, er das Rauschen des Meeres hören und die salzige Brise schmecken konnte, wusste Cedric, was ihn erwarten würde.

Nein. Nicht schon wieder.

Doch war er zu müde, um sich dem Unausweichlichen aufzubegehren. Mittlerweile kannte er diese Art von Träumen einfach schon zu gut. Sie waren so sehr in ihm verankert, als würden sie geradezu einen Teil seiner Identität ausmachen. Doch manche Dinge konnte man nicht ändern, manchen Dingen kam man nicht aus.

Cedric seufzte nur, die Furcht wie ein undurchdringlicher, dicker Knoten in seiner Brust. Langsam setzte er sich in Bewegung, die Straße zum Strand entlang, die Hände in den Jackentaschen vergraben. Der Himmel über dem Ozean verdunkelte sich, als dicke Sturmwolken aufzogen.

Hin und wieder überlegte er, den Weg einfach nicht einzuschlagen. Umzudrehen, zurück in die Stadt, ganz einfach woanders hin. Er hatte es auch schon oft versucht. Es hatte nichts gebracht. Er war doch immer wieder in dieser Bucht gelandet, ganz gleich wohin er gedacht hatte zu gehen.

Gerade existierte kein anderer Ort, daher gab es auch keinen Ausweg.

Nur den einen. Er wusste, wie es enden würde. Das machte es jedoch nicht einfacher. Im Gegenteil hatte Cedric das Gefühl, das mit jedem Aufwachen aus einem Albtraum ein Stück weniger von ihm zurück kehrte. Heute mochte es nur eine Erinnerung sein, die sich wiederholte, weil er sie nie wirklich überwunden hatte.

Ein wenig wunderte Cedric sich dennoch, während langsam ein Objekt im Sand sichtbar wurde. Hätte er im Vorwege eine Vermutung aufstellen müssen, so hätte er geglaubt, dass er diese Nacht, nach allem was passiert war, sich vor dem Abgrund eines unbekannten Hochhauses wiederfinden würde. Schließlich war dieses Ereignis nicht nur frischer, sondern gleichermaßen grausamer gewesen. Der Strand hingegen? Der Vorfall lag viele Jahre zurück, es war vertraut. Was sollte ihn hier noch überraschen?

Aber vielleicht war gerade das die Milde, die ihm heute entgegengebracht wurde.

 

Cedric war angekommen. Seine Turnschuhe mit Sand durchtränkt, fand er sich vor einem schwarzen Motorrad wieder, welches jemand hier verwahrlost stehen gelassen hatte.

„Aber wer würde denn...?“, hörte er sich selbst sagen, obwohl er mittlerweile genau wusste wer. Eine Person, die ihn nun nicht nur einmal, sondern nun schon zum zweiten Mal – wie sagte man so schön? - zum Tode verhelfen wollte. Nur, dass das zweite Mal von dir selbst ausging, nicht wahr? Cedric schloss die Augen, die Erschöpfung war ihm anzusehen. Eine Wahrheit, die sich nicht verleugnen ließ.

„Lange nicht mehr gesehen, Cedric~.“ Cedric zuckte zusammen bei den Worten und obwohl es exakt jene waren, die er wusste zu hören, waren sie es gleichzeitig nicht. Etwas stimmte nicht.

Was zum...?

Er öffnete die Augen und drehte sich zu der Person um, die ihn angesprochen hatte.

Es war nicht Rick.

Es war Kyle.

 

Noch bevor Cedric die Veränderung verstehen konnte, verlor er das Gleichgewicht. Er konnte sich nicht entsinnen, ob von sich aus oder ob der Punk ihn geschubst hatte. Es war nur ganz einfach das, was geschehen war und damit das, was immer passierte. Auch jetzt. Dennoch traf es ihn gerade unerwartet, doch noch ehe er sich im Sand wiederfand, ergriff Kyle sein Handgelenk und hielt ihn somit vom Sturz ab.

„No worries, I got you.“

Cedric machte einen Schritt zurück und musterte den Punk vor ihm skeptisch.

„Was tust du hier?“ Er war irritiert. Das war nicht das, was hätte eintreten sollen. Aber war das nun schlechter? So grausam die Rückkehr jedes Mal auch war, so steckte in ihr auch ein schwacher Trost in seiner Vertrautheit. Wenn jener Auszug nun verändert wurde... dann konnte alles passieren. Immerhin handelte es sich hierbei nur um einen Traum und ein solcher kannte keine Grenzen. Das jagte ihm Angst ein. Furchtbare Angst.

„I figured.“, begann Kyle, der den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht entgangen sein konnte, „Das etwas passieren könnte. Und ich hab' dir immerhin versprochen, dich nicht alleine zu lassen.“

I don't make the rules. Natürlich, Cedric erinnerte sich. Kyle wirkte gelassen, beinahe genauso wie er stets war und doch fragte Ced sich nun, was nicht alles hinter der scheinbaren Gelassenheit stecken mochte. Unruhe? Nervosität? Sorge?

„Aber hey, du könntest mir ja erzählen, wo wir hier sind? Oder was wir hier machen?“, fragte Kyle, nachdem er von Cedric nur mit Schweigen begrüßt wurde.

„Am Strand.“, entgegnete er knapp, hielt Distanz aus Vorsicht heraus, überlegte was er aus der zweiten Frage machen sollte. Denn die Wahrheit war: er wusste es nicht. Was war es, was ihn so häufig an diesen Ort zurückkehren ließ?

Kyle blickte ihn nur für einen stummen Moment lang an.

„Huh, darauf bin ich gerade noch selbst gekommen.“, entgegnete er, jedoch lag keine Boshaftigkeit in seiner Stimme. Der Punk hatte die Arme ausgebreitet und deutete so förmlich auf das ganze Gebiet um sie herum. Sie waren die einzigen zwei Personen weit und breit.

„Ich meine, warum hier?“

Was ist hier geschehen?

Es war dieser Moment, als Cedric begriff, dass Kyle tatsächlich keine Ahnung hatte. Das sollte ihn nicht wundern, wenn man bedachte, wie kurz er den Punk erst kannte und wie wenig er ihm aus seinem Leben erzählt hatte. Doch nach all den Jahren hatte Cedric den Glauben erlangt, dass jene Figuren, die im Theater seiner nächtlichen Mahr auftauchten, alles wussten. Ihn damit aufzogen, ihn triezten, Leid zufügten. Das sie alle die Antworten hatten, nach denen er stets vergeblich suchte. Sein Kopf voller Fragen, die nicht aufhören wollten ihn zu quälen, da niemand ihm beistand.

Doch Kyle, jetzt, schien ehrlich ahnungslos. Also machte Cedric den Mund auf.

„Es war hier, wo ich angeschossen wurde.“, sagte er leise. Er erinnerte sich an das Treffen am Spielplatz, viele Jahre nach dieser Situation in der sie sich jetzt befanden. Kyle hatte eine Ahnung ausgesprochen, die er zwar bestätigt, jedoch nicht weiter ausgeführt hatte. Stattdessen war er damals gegangen. Geflüchtet. Hatte nicht an diese Situation zurückdenken wollen und nun standen sie gemeinsam hier. Wie herrlich ironisch, nicht wahr?

„Oh, damn.“, meinte Kyle und ließ den Blick nun über die Bucht streifen. „Then let's make sure, this isn't gonna happen today.“

 

Der Wind pfiff nun stärker über das Meer. Cedric nickte nur langsam auf Kyle's Worte hin. Wie sehr er sich das wünschen würde. Einmal nicht den Schmerz spüren, den Verlust, die Panik im Angesicht der Waffe.

 "Hey, wie wäre es, wenn du mir mal eine Hand leihst, wenn du sowieso schon hier bist?" 

Kyle's Stimme. Nicht jedoch seine Worte. Nicht?

Cedric hielt den Atem an. Nein.

„Ah shit.“, meinte Kyle hastig, „Sieht so aus, als könnten wir nicht alles einfach ignorieren. I guess. Aber kriegen wir hin.“ Er schwieg für einen Moment, schien zu überlegen, ehe er fortfuhr: „Yeah, wie wäre es wenn wir das Ding von hier wegschieben? Meinst du, das ist okay?“

Cedric nickte nur. Er hatte sich innerlich längst dem Geschehen gefügt. Alles in Allem hatte er es nie anders getan, nicht? Er umfasste die schwere Maschine zusammen mit dem Punk, um das Motorrad aus dem Sand zu befördern.

„You can say no. Nur so. Ist ne Option.“

Ced ließ sich Zeit mit seiner Antwort. „Ich hab's versucht.“, meinte er schließlich, „Aber ich kann nicht ändern, was passiert ist.“

„Nein, ich seh schon. Aber kannst es ja mal im Hinterkopf behalten, wenn es mal wieder relevant wird.“ Er kicherte leise und als Cedric ihm nur einen fragenden Blick zuwarf, war die Erklärung simpel. „Hinterkopf, Ced. Und wir befinden uns wohl gerade literally in deinem Schädel, nicht?“

Cedric schüttelte dazu nur den Kopf. Eine seltsame Erfahrung, das sich die Figuren in seinem Traum über dessen Tatsache bewusst waren. Fast so, als wäre dieser Kyle kein Hirngespinst seinerseits, sondern real. Ich dreh ganz einfach langsam durch.

„Why did you, tho?“, fragte der Punk ihn dann jedoch ruhig. Cedric richtete den Blick wieder nach vorne, als er zur Antwort ansetzte.

„Ich bin mir nicht sicher. Schätze, ich konnte mir ganz einfach nicht vorstellen, das so etwas jemals passieren könnte.“

"Ich könnte dir jetzt sagen, - auf der Grundlage deiner Persönlichkeit und Vorgeschichte, sowie weiterer, eher unwichtiger Beobachtungen, blah, blah - welche Gründe oder Gedanken deine plötzliche Bereitschaft am ehesten erklären würden. Shit, nichts einfacher als das!“

„Did you know?“, wechselte Kyle das Thema, „Der Grund warum das Motorrad da überhaupt verwahrlost stand ist, weil mein Bestie und ich es geklaut haben.“

Cedric blieb abrupt stehen. Dabei ließ er automatisch das Vehikel los, worauf Kyle Mühe hatte es zu halten und die Maschine beinahe umfiel.

That was a joke.“, stellte er klar, den entsetzten Gesichtsausdruck von Ced offenbar bemerkend.

Er war nicht überzeugt. Allerdings – das würde bedeuten, das die Szene, so wie sie sich abgespielt hatte, nur so verlaufen war, weil Kyle seine Finger mit ihm Spiel hatte. Das wäre ein zu großer Zufall um wahr zu sein.

„Erschieß mich doch besser gleich.“, murmelte Cedric, leise, unbedacht, nicht klar welche Worte er gerade wiedergab. Er schloss die Augen, ganz so, als hätte er sich seinem Schicksal einfach ergeben. Immerhin waren die zwei nun an der Straße angekommen, hatten das Motorrad dort abgestellt. Bis hierhin war es noch einfach gewesen, nicht wahr?

„Man, Ced, ich hab dir doch gesagt, dir passiert heute nichts. Trust me.“

„Kyle-,“, begann er langsam, ein gequälter Ausdruck der sich auf seinem Gesicht breit machte, „Ich bin mir nicht sicher, ob das funktionieren wird.“

"Chance verpasst, Darling.." 

„Ich meine-,“

 "Wenn du nicht dazu in der Lage bist, dir etwas auszusuchen, dann werde ich eben das ganze Denken für dich übernehmen. Wie wär's damit? Ah, warte, dir blieb tatsächlich ja nie eine andere Wahl.."

„Hörst du sie nicht?“

 "Im Endeffekt bist du doch bloß ein naiver Idiot.."

Das Echo seiner Erinnerungen.

„Ah, shit.“, entgegnete Kyle, der das Motorrad die letzten Meter alleine zur Straße schob. Cedric war, ohne es zu bemerken, ein Stück zurück geblieben. „I really tried my best to hold them off, but damn.“ Er wirkte nachdenklich, doch Cedric war nicht in der Lage abzuwarten, geschweige denn richtig zuzuhören. Es wirkte zu real. Das Meer, die Nacht, die Kälte. Die Silhouette vor ihm. Selbst wenn Rick nicht hier war, war zu viel von ihm hier. Er erinnerte sich an die panische Angst, die er verspürt hatte, der Moment an dem er für sich begriffen hatte, wie gefährlich dieser Mann in Wahrheit war. Er verspürte sie jedes Mal erneut, wenn er hier war. Ein Gefühl, welches sich nicht einfach abwusch.

"Ah, ich habe mich übrigends dafür entschieden, dir den Gefallen zu tun, dein Leiden zu beenden. Wie findest du das?"

Zu viel. Es war zu viel.

Cedric sank auf die Knie, raufte sich die Haare, eine zusammengekrümmte Gestalt am Boden.

"Ich kann natürlich nicht viel machen, da du dich doch bloß selbst erneut in dieses schmeißen wirst, aber hey, wir können nicht behaupten, ich hätte es nicht versucht, ja..?"

„Hey, Ced!“, rief Kyle alarmiert und war binnen weniger Schritte bei ihm. Cedric wagte es nicht aufzusehen. Er fürchtete sich davor, dass Kyle nun im Besitz der Waffe war, die ihm gezeigt hatte, welche Formen die Angst noch annehmen konnte.

„Es ist jedes Mal so.“, presste Cedric mühsam hervor, „Dieselben Worte und sie treffen mich noch immer, weil ich noch immer nichts daraus gelernt habe. Ich schäme mich dafür, aber es gab Momente, in denen hatte ich mir gewünscht, es wäre damit zu Ende gegangen.“ Er sprach nun schneller, so als müsste er sich seiner Gedanken einmal Luft machen und es gleichzeitig so schnell wie möglich hinter sich bringen. Zitternd hatte er sich an den Körper von Kyle geklammert, der eigentlich gar nicht hier sein dürfte. Genauso wie auf dem Dach.

„Ich hasse es, weil er Recht behielt. Es ist schlimmer geworden. Ich hab meine Pein nur selbst vergrößert. Ich komme mir so närrisch vor ihm geglaubt zu haben was Ran betrifft, obwohl ich es besser wusste. Es war, als wollte ich ihm das glauben, als würde es das irgendwie leichter machen. Stattdessen ist das Gegenteil eingetreten. Durch meine Blindheit hab ich sie noch alle verloren.“ Er schluckte schwer. Ah, es tat weh.

„Ich finde mich so oft hier wieder, als hätte hier alles angefangen. Aber wann hat es sein Ende? Wann wache ich endlich wirklich auf? Ich hatte damals richtige Angst um mein Leben. Wie kann es sein, dass ich es mir da nun selbst nehmen wollte? Wie konnte ich mich nur dazu bringen?“ Ein Schluchzen entkam ihm, durchbeutelte seinen ganzen Körper, welcher sich noch verzweifelt an Kyle klammerte. Der hatte solange geschwiegen, ihn aussprechen lassen, nur Trauer und Mitgefühl in seinem Blick. Irgendwann hatte er die Gestalt Cedrics in eine Umarmung gezogen, ein wenig Trost in der Düsternis der Vergangenheit.

„Ich weiß, das ist beschissen.“, entgegnete er schließlich, mit weicher Stimme, die Umklammerung nicht lösend, „And I really can't tell you what to do, but, Ced, allein das du dir selbst darüber im Klaren bist, ist schon mal 'ne Menge. Und es klingt vielleicht bescheuert, aber auch wenn du nicht ändern kannst, was schon passiert ist, dann doch zumindest das, was vor dir liegt. Du hast schon viel mehr geschafft, als du je von dir gedacht hättest, nicht?“

Cedric blickte zögerlich auf, sah das traurige Lächeln auf den Lippen des Punks und nickte nur langsam. Er wusste nicht, ob er es konnte. Sicher war nur eines: Aufgeben konnte er kein zweites Mal. Als die letzte Hoffnung verblasst war und er sich endloser Gleichgültigkeit hingegeben hatte. Es hätte fast geklappt. Doch im Nachhinein betrachtet wollte er nie wieder so empfinden. Doch wenn er die Gleichgültigkeit ablehnte, würde der Schmerz und die schwierigen Entscheidungen zurückkehren.

„Ich weiß nicht, ob ich stark genug dafür bin.“, flüsterte er.

„Ich auch nicht.“, erwiderte Kyle, fuhr jedoch fort, noch bevor sich die Verzweiflung in ihm breit machen konnte, „But I got your back. Seriously.“

„Muss ich es also wirklich akzeptieren, oder?“

„Jap.“

Alles. Jedes vergangene Ereignis, auch wenn er es nicht wahrhaben wollte. Die Lügen, die er geglaubt, ebenso wie jene, die er selbst gestrickt hatte. Es bedeutete sich seine menschliche Schwäche einzugestehen und Verantwortung zu übernehmen, für all die gesprochenen Worte, all die Entscheidungen. Cedric schluckte. Er war so lange davon weggelaufen. Vor all den Wahrheiten. Das Ran ihn ganz einfach verlassen hatte. Das Simon Alice misshandelte. Das er seinen besten Freund alleine gelassen hatte. Und das Noita die Wahrheit wohl weitaus mehr akzeptiert hätte, als jede noch so gut gemeinte Lüge, die er für sie erdacht hatte. Konnte es solche überhaupt geben?

All das zu akzeptieren, bedeutete sich seine Fehler einzugestehen.

„Ich hab viel falsch gemacht.“, meinte er leise.

„Du wärst überrascht. Scheint eine weit verbreitete Angewohnheit von Menschen zu sein, huh?“

Es gab noch so vieles was er sagen wollte und doch – wie weit brachten ihn diese Worte nun?

„Und du wirst mich wirklich nicht erschießen?“

Seine Worte klangen beinahe hoffnungsvoll. Es hätte so sehr ins Schema gepasst. Sich einen vermeintlichen Freund auszumalen, der den Platz des Peinigers einnahm. Es hätte ihn erneut gebrochen, mitansehen zu müssen, wie Kyle eine Waffe auf ihn richtete, ihn verletzte, mit Worten verhöhnte. Ein Freund zum Feind.

Doch Kyle gluckste nur. „No, Ced. I won't.“

Es war dieser Moment, in dem Cedric schließlich von ihm abließ. Es war vorbei. Irgendwie. Fürs Erste. Doch auch das musste erst einmal bei ihm durchsickern. Kyle positionierte sich neben ihm im Sand und nun blickten beide auf das offene Meer hinaus. Die dunklen Wolken hatten sich verzogen und hervorgekommen war ein strahlend blauer Himmel, der den Ozean zum Glitzern brachte.

„Ich kann nicht glauben, dass ich diesmal so glimpflich davon gekommen bin.“, begann Cedric langsam, die Arme um seine aufgestellten Beine geschlungen.

„Ah, dachtest du wirklich, I'd leave you unprotected?“

Cedric wandte irritiert den Kopf zu Kyle und sah gerade noch das fast unmerkliche Grinsen in seinem Gesicht.

„I promised you, didn't I? Und ich halte immer meine Versprechen~.“

Cedric schüttelte nur sachte den Kopf, aus der Aussage nicht ganz schlau werdend. Allerdings spielte es ja nur eine untergeordnete Rolle. Es war okay, irgendwie. Aus welchen Gründen auch immer war er diese Nacht verschont geblieben. Verhältnismäßig zumindest. Es war noch immer nicht leicht – es würde wohl eine ganze Weile noch nicht leicht werden – aber es war irgendwie okay. Zu schätzen – und Cedric war wirklich dankbar dafür – blieb nur der Freund an seiner Seite und der malerische Ausblick vor ihm.

Der erste Traum seit langer, langer Zeit in dem ihm nicht die Dunkelheit verschlang.

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Wer bist du?

Wer bist du?

 

Er stand in einem leeren Raum. War es überhaupt einer? Oder befand er sich einfach im Nichts? Alles um ihn herum war schwarz – vorne, hinten, unten, oben. Schwärze. Dunkelheit.

Cedric sah sich um, niemand. Bis plötzlich – jemand.

Seine Schwester. Alessa.

„Wer bist du?“, flüsterte sie. Sie sah ihn nicht direkt an, schien vielmehr durch ihn hindurch zu sehen. Als wäre er gar nicht da. Nicht wirklich jedenfalls. Cedric öffnete den Mund, doch keine Worte kamen heraus.

„Wer bist du? Mein Bruder bist du nicht. Er würde sich mehr Mühe geben, das hat er schon immer gemacht, seit ich klein war. Hat mir jeden Wunsch nachgegeben und immer mal wieder vorbei gesehen. Du tust das nicht. Du hast das schon sehr lange nicht mehr getan. Bin ich etwa nicht länger die kleine Prinzessin? Warum schaust du nicht länger vorbei? Wer bist du und was hast du mit meinem Bruder gemacht?“

Die Worte kamen über ihn wie ein Schwall eiskalten Wasser. Cedric blieb der Mund offen stehen vor Entsetzen. Seine Augen hatten sich geweitet, doch hatte er keine Widerworte einwenden können. Alessa hatte in völliger Ruhe gesprochen – mit einer Ernsthaftigkeit, wie sie nur die Wahrheit tragen konnte. Das kann nicht sein. Das stimmt nicht, ich-

Sie war weg.

Nick stand vor ihm, der Blick ebenso leer, nicht direkt auf ihn gerichtet, stattdessen... an ihm vorbei. Oder hindurch. Ced wusste es nicht.

„Wer bist du?“ Seine Stimme klang ebenso unbelebt wie die seiner Schwester. „Mein bester Kumpel bist du nicht. Der hätte mich nie einfach so hängen lassen. Oft genug hab ich ihn rausgeholt aus seinem Schneckenhaus, ihn aufgemuntert. Aber auf die Idee gekommen, dass es auch andersrum mal ganz gut sein könnte, bist du nicht. Du bist ein Arsch. Mein bester Freund warst du wohl nie wirklich. Wer also bist du überhaupt?“

Ein Schlag in die Magengrube. Es war als könnte er den Schmerz förmlich spüren – jenen, den Reue und Schuldgefühle ihm erbrachten. Ced wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Es stimmte. Es war wahr. War es das nicht? Ah, das konnte es nicht sein oder? Hör zu, ich wollte das nicht, ich- Nick war verschwunden, noch bevor Cedric seinen Gedanken zu Ende bringen konnte.

Alice machte seiner Stelle Platz.

„Wer bist du?“ Ihre Stimme klang dünn und zart. Ihr Auge zierte ein Veilchen, auf ihrer Haut waren überall blaue Flecken zu sehen. Ihr Bauch war kugelrund. „Ein Freund bist du nicht. Ein echter Freund hätte die Misshandlungen gesehen, hätte erkannt was geschieht. Insbesondere wenn die Gewalt vom eigenen Bruder ausging. Wer bist du, dass du so blind durch die Weltgeschichte wandelst, es dir erlaubst die Augen vor allem zu verschließen?“

Der Grauen packte ihn. Das blonde Mädchen sah fürchterlich aus. Wie hatte er das nur zulassen können?

„Alice, ich-“, krächzte er, doch die Gestalt der Schwangeren war längst verschwunden.

Simon funkelte ihn an.

„Wer bist du?“, knurrte er, „Mein Zwilling bist du nicht. Der hätte mich verstanden. Der würde mich niemals hinterfragen und sich mir nicht in den Weg stellen. Was geht dich das alles denn an? Wer bist du, wenn du nicht mein Bruder bist?“

Die Aggression kam bei Cedric an, selbst hier, in diesem luftleeren, finsteren Raum ohne Grenzen. Kümmer dich um deinen eigenen Scheiß. Ja, wer war er für Simon überhaupt noch? Für irgendwen?

Cedric schloss für einen Moment die Augen. Er wollte sie nicht sehen, keinen von ihnen, nicht so. Nicht mit all der Verachtung, der sie ihm entgegenbrachten.

„Wer bist du?“, die Stimme war leise. Er wollte nicht aufsehen, sich nicht weiter mit dem auseinandersetzen, doch er hatte keine Wahl. Er kannte diese Stimme. So gut.

„Mein Verlobter bist du nicht. Der hätte mich nicht so schnell aufgegeben. Er hätte mich verstanden und mir keine Vorwürfe gemacht! Du hast mir den Rücken zugekehrt. Wer bist du wirklich und was hast du mit meinem Liebsten gemacht?“

Schuldgefühle packten ihn, ertränkten ihn. Er sah ihr Gesicht, Ran's Gesicht, doch auch ihr Blick war ausdruckslos. Als wäre sie selbst zu müde, sich dem Ärger und dem Frust noch weiter hinzugeben. Es hätte anders werden können, zwischen ihnen. Hätte es das? Die Gewissheit, dass dies noch nicht ausgestanden war, nagte an ihm, während ihr trauriges Gesicht in der Dunkelheit verblasste.

Lass mich aufwachen. Lass mich einfach nur aufwachen.

„Wer bist du?“ Ein Hauch nur.

Sein Herz setzte aus.

Doch es spielte keine Rolle, nicht hier, nicht wahr?

Er wollte es nicht, wollte es nicht hören, doch es brachte nichts, die Ohren zu verschließen. Sie sprach. Noita. Mit einer Stimme so leer, als befände sich kein Leben mehr darin. Als hätte er es ihr genommen.

„Kannte ich dich je wirklich? Hast du die ganze Zeit nur mit meinen Gefühlen gespielt? Für mich war es echt, weißt du? Ich verstehe das nicht. Wer bist du wirklich, wenn du nicht der bist, für den ich dich hielt?“

Er wollte schreien, doch kein Laut kam über seine Lippen. Wollte zu ihr, doch wich ihre Gestalt stets im selben Maße vor ihm zurück, gleitend, unnatürlich, wie ein Geist. Er erreichte sie nicht. Er würde sie nie mehr erreichen. Er hatte alles verloren, denn er war nicht mehr der, der er einmal war. Richtig. Doch wer war er dann noch?

Niemand.

Noita's Gesicht bekam einen Riss.

Niemand von Bedeutung.

Ein Riss, der sich ausbreitete, bis sie brach. Als wäre sie nur eine leere Hülle aus Porzellan.

Niemand, der sich kümmert.

Doch die Hülle war nicht leer. Unter der Schicht, die wirkte wie bemaltes Glas, kam die Silhouette von Ran zum Vorschein.

Niemand, der kämpft.

Sie brach, an anderer Stelle, doch ebenso leicht, ebenso fragil.

Niemand, der hinsieht.

Sie kamen alle zum Vorschein – leer, zerbrochen, kaputt. So wie er selbst auch die Beziehung zu all diesen Menschen zerstört hatte.

Niemand, der zuhört.

Ein groteskes Bild von übereinanderliegender Trümmerteile.

Niemand, an den man sich erinnern will.

Ihm wurde der Boden unter den Füßen weg gezogen. Nicht im literarischen Sinne, wortwörtlich. Die unendliche Finsternis, in der er sich befand, gab ihm nun keinen Halt mehr – sie verschluckte ihn.

Niemand, der es verdiente zu leben.

Cedric fiel. Er fiel und ließ das kaputte Frack an Personen zurück. Der Anblick wurde immer kleiner, doch bevor es gänzlich verschwand, zersplitterte die Figur in tausend Einzelteile. Menschen waren doch so überaus gläsern. So zerbrechlich, so fragil. Es brauchte nur einer Unachtsamkeit, um eine Wunde zu schlagen, die sich nicht wieder rückgängig machen ließ.

In wie viele Einzelteile er wohl zerschlagen würde?

Der unendliche Fall.

Er musste sich der Frage stellen, oder? Jener, wer er wirklich war? Wenn er nicht der war, für den sie ihn hielten, wenn er nicht der war, für den er sich selbst noch glaubte, wer war er dann? Zu wem war er geworden? Was von ihm war noch übrig?

Cedric schloss die Augen – ein lächerlicher Akt im Angesicht der durchdringenden Dunkelheit um ihn herum.

Er wusste es nicht. Klar war nur, er musste eine Antwort auf diese Fragen finden, denn nur so konnte es ein Weiter für ihn geben. Einen Weg, dem er folgen, den er gehen konnte. Und die Zeit wurde knapp, wenn er erhalten wollte, was vielleicht noch zu retten war.

Beeil dich.

Ced fürchtete den Aufprall.

Wer war er?

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Dream 9: In der Turmgalerie

the tower of memories

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Friedhofsgeflüster

Das alte Eisengitter quietschte, als mein Papa es öffnete. Ich stand ruhig neben ihm, ehe er mir bedeutete, hindurch zu gehen, damit er das Tor wieder verschließen konnte.

„Wo sind wir, Papa?“, fragte ich, bekam jedoch keine Antwort.

Er ging an mir vorbei und ich folgte ihm, sah vor mir seinen Rücken, nicht aber sein Gesicht. Später sollte es mir schwer fallen, mich noch an sein Gesicht zu erinnern. Damals jedoch zögerte ich nur kurz, bevor ich nach seiner Hand griff. Er schüttelte mich nicht ab, sondern drückte die meine kurz. Ein Zeichen, dass alles gut war.

Also folgte ich ihm stumm. Ich mochte diesen Ort nicht. Es war ruhig. Zu ruhig. Eine solche Stille kannte ich nicht. Niemand war hier. Nicht einmal die Sonne drang bis hierher durch, dabei brannte sie doch sonst so unermüdlich.

 

„Papa, was machen wir hier?“, fragte ich erneut, doch wieder begegnete mir nur ein Schweigen. Dann blieb Papa jedoch stehen und blickte auf einen großen Stein am Wegesrand.

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