· 

Writing Prompt #02

"You say this is what you want but your eyes are telling me a different story.”


Vergessen [Forget Me]

„Du lebst.“, flüsterte er und sah dabei so irritiert, ja, regelrecht zerbrechlich aus, das auch mir die Gesichtszüge entgleisten. Der Blick in seinen Augen als er mich sah – endlich wiedersah! - verriet mehr als nur reine Ungläubigkeit. Es wirkte, als stellte er meine bloße Existenz in Frage und nichts hätte mich mehr vor den Kopf stoßen können. Du lebst. Natürlich lebte ich! Nie hatte ich mehr gelebt als die letzten Jahre und doch war ich nun zurückgekehrt. Ich schloss die Augen. Das konnte doch alles nicht wahr sein.

 

* * *

 

London war fantastisch! Endlich blühte ich auf, keine Mutter, die sich ständig in mein Leben einmischte, kein Familiendrama, keine unerreichbare Liebe, niemand, der mich klein hielt. Kein Cedric. Nun, Abstriche mussten gemacht werden. Aber warum dachte ich überhaupt schon wieder darüber nach?

 „Where did you say you come from?“ Der Typ, der mich das fragte, lag noch in meinem Bett, während ich bereits wieder in meine Unterwäsche geschlüpft war und in meiner Tasche nach der Packung Kippen suchte.

 „Germany.“, gab ich knapp zur Antwort, ohne hinzusehen. Wollte er jetzt im Nachhinein mit dem Smalltalk starten? Naja, nicht das wir davor die Zeit gehabt hätten.

 „Glad you ran away from there. Like your name implied.“ Er lachte, als hätte er gerade eine ultrawitzige Aussage gemacht. Ich hielt in meiner Suche inne, drehte den Kopf, sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

 „Funny.“, sagte ich, obwohl ich nicht lachte. Dann wandte ich mich wieder ab, um weiter in meiner Tasche zu kramen. Wo waren die blöden Dinger nur?

 Ich hörte, wie er die Bettdecke zur Seite warf. Er trat hinter mich, legte seine Arme um meinen Körper und ich hielt erneut inne.

 „I hope you never run away from me.“, raunte er in mein Ohr, „You're precious, Ran, you know?“

 Ich drehte mich in seiner Umarmung, verschränkte die Hände hinter seinem Nacken. Ein Lächeln auf meinen Lippen, weil ich wusste, das es ein solches nun brauchte. Er sah an mir herab, offenbar zufrieden mit sich und blickte doch nur auf meinen Körper.

 „I know.“, erwiderte ich schlicht und sah ihn danach nie wieder.

 

 „Ran, we're going out tonight. You're coming with us?“ Ich blickte von meinem Instant-Essen auf.

 „Not today Mel. Next time, for sure.“ Sie warf mir einen skeptischen Blick zu und verzog sich dann mit den anderen Mädels aus der Küche. Nicht, das ich nicht hörte, wie sie meine sich häufenden Absagen in letzter Zeit kommentierten. Pah. Vielleicht sollte ich mich wirklich wieder einmal in das Getümmel stürzen. Aber alleine – so wie ich es am besten konnte.

 

 „You look sad.“ Ich seufzte, drückte dann die Kippe aus. Was dumm war, denn nun hatte ich nichts mehr, womit ich mich ablenken konnte und musste mich wohl oder übel mit ihm befassen. Halt, das klang nicht fair. Er war ja ein netter Kerl. Dunkle Haare, Brille, weiche Gesichtszüge – also eigentlich gar nicht mein Typ. Wie war ich an den überhaupt geraten?

Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben mich auf den kleinen Balkon. Der Abend war spät, doch der Verkehr rauschte nach wie vor unter uns hinweg. Die Hektik der Stadt gab mir ein befriedigendes Gefühl.

 „I don't make you happy, right?“

 Oh boy. Ernsthaft jetzt – real talk? Ich seufzte.

 „No.“ Brachte ja auch nichts, um den heißen Brei herum zu reden. Man, ich wünschte echt, ich hätte die Zigarette noch in der Hand – dabei rauchte ich eigentlich nur gelegentlich. Oder hatten sich die Gelegenheiten gehäuft?

 Er nickte bloß. Es irritierte mich, das er nichts weiter sagte.

 „How come you noticed?“, fragte ich daher. Nicht das es mich sonderlich interessierte.

 „You don't look at me. Not really, though.“

 Ich sah gen Himmel, doch es waren keine Sterne zu sehen. Zu bewölkt. Oder zu viel Licht.

 Aber es war schon seltsam. Ich hatte mir stets gewünscht, von jemanden angesehen zu werden – wirklich angesehen, so wie er, damals. Als sie noch Teenager gewesen waren. Ich hatte es versucht, wirklich. Doch vermutlich baute dieses Verlangen nur auf einer trügerischen Erinnerung. Niemand sah mich, so wie ich gesehen werden wollte, doch genauso wollte ich nicht, das jemand mich richtig sah. Machte das einen Sinn? Ich versteckte mich, obwohl ich mir jemanden wünschte, der mich so nahm, wie ich war – und mich genau davor fürchtete. Bullshit. Doch ebenso interessant war die Tatsache, das ich die Menschen, die ich neu in mein Leben ließ, ebenso keines Blickes würdigte. Keines tieferen, zumindest. Das gerade dieser jugendlich wirkende Typ, der mich irgendwie an ihn erinnerte, obwohl sie doch nichts gemein hatten, mich darauf aufmerksam machte, war absurd.

 Ich wollte ihn zum Gehen auffordern, doch als ich aufsah, war er bereits verschwunden.

 Wo war nur der Alkohol, um die Wahrheit weg zu waschen?

 

* * *

 

Und nun stand ich hier. An diesem menschenverlassenen Strand, in dieser Stadt, die so dermaßen unbedeutend war. Kein Vergleich zu London jedenfalls. Mein Herz klopfte – verdammt nochmal, so hatte ich mir das nicht vorgestellt! Ich war mit der festen Absicht zurück gekommen, ein für alle mal abzuschließen, die letzten Bindungen zu kappen, um dann neu voran zu gehen. Das hatte ich allen gesagt – eine Woche maximal, dann wäre ich wieder zu Hause. Und zu Hause war sicherlich nicht dieses Kaff hier.

„ Du lebst.“, wiederholte er und sein Blick wirkte gebrochen, als sähe er mich und sähe mich doch nicht.

 „Natürlich lebe ich!“, entgegnete ich nun energisch, verzweifelt fast. Was sollte das hier werden? Ich hatte mit Enttäuschung gerechnet, mit Vorwürfen, vielleicht mit Wut, auch wenn er sonst nicht gerade der wütende Typ war. Aber sicher nicht mit einer Existenzkrise. Sein Anblick schmerzte und ich fragte mich, ob ich das alles zu verschulden hatte, weil ich einfach abgehauen war. Nein. Ich hatte da raus gemusst, sicher würde er das verstehen, früher oder später. Er musste! Ich hatte mir die Erklärungen bereits beiseite gelegt, doch ich bereute nichts – nur das ich sie trotz allem nicht aussprechen konnte, das hatte ich nicht angenommen.

 Ich öffnete den Mund, wollte ihn mit Worten wachrütteln, ihn dazu bringen, endlich richtig hinzusehen, da spürte ich seine Lippen auf den meinen.

 Und die Zeit stand still.

Für den Moment.

   Es war nicht richtig, das wusste ich.

Aber konnte ich mich dem wirklich erwehren?

          Sollte ich?

 Durfte ich mich nicht einmal für einen winzigen Moment vergessen?

           Vergessen, warum ich hergekommen war.

     Vergessen, was gewesen war.

                     Vergessen, was ich wollte.

   Denn was wollte ich denn nun wirklich?

Und wie lange konnte ich mich noch selbst und andere belügen, bis die Illusion zerbrach? Wie lange noch die Wahrheit hinter meinen Augen verstecken, stets in Furcht jemand könnte sie eines Tages von dort hervorziehen? Er konnte es, einst. Könnte er es noch immer?

Wie lange noch bis dieser Kuss endete und ich die Antwort auf diese Frage bekommen würde?

Kommentar schreiben

Kommentare: 0