· 

Dream 8: Schneefall

Das Erste, das Cedric bemerkte war, dass es kalt war.

Das Zweite, dass dies nicht möglich sein konnte.

Cedric öffnete die Augen. 

Mit seinen Armen umklammerte er seinen Körper. Bei der Bewegung fiel ein wenig Schnee von seinem Haupt gen Boden. Sein Hemd war kurzärmlig. Kein Wunder war ihm kalt.

Wie kam es also, dass er das nicht glauben konnte? Er schob den Gedanken beiseite. Wichtig war es erst einmal hier herauszukommen. Wo auch immer »hier« genau sein mochte. Cedric setzte einen Fuß vor den anderen. Es gab keinen Weg, keine Richtung, kein Ziel. Nur diese bittere Kälte, die ihn langsam lähmte. Und ein Samen der Furcht, der verlauten ließ, dass er hier erfrieren würde, wenn er scheiterte.

Um ihn herum war die Welt weiß. Weder der Himmel über ihm, noch der Boden unter ihm, waren genau zu erkennen. Die Spuren, die seine Schritte im Schnee zeichneten, verblassten schnell, wurden erneut von dicken Flocken bedeckt. Es schneite. Er rieb sich die Arme um die Kälte zu vertreiben.

Nichts geschah.

 Cedric machte einen Schritt nach dem anderen, doch… nichts geschah. Er sah kein Ziel vor Augen, nichts auf das er zusteuern konnte. Keine Bäume in einer Allee, keine Pfosten, die eine Straße markierten, keine Gebäude, in denen Licht brennen mochte. Nur weiß. Endloses, reines Weiß. Es schien erdrückender als die gähnende Schwärze, in die er so oft das Gefühl hatte sich zu verlieren. 

Also begann er, sich Fragen zu stellen. Wo war er hier? Er wusste es nicht. Wie kam er hierher? Auch das, war ihm ein Rätsel. Was hatte er zuletzt getan? Cedric blieb kurz stehen, die Stirn gerunzelt. Was hatte er zuletzt getan? Er versuchte sich zu erinnern, die Fakten chronologisch zu ordnen, die Begebenheiten im Alltag aufzurufen. Doch er kam nicht dazu, etwas lenkte ihn ab.

Der Schneefall wurde stärker. Das Licht dunkler. Cedric richtete seinen Blick nach oben. Er konnte keine Sonne sehen, doch anhand der Nuancen wirkte es nun, als würde es dämmern. Nacht war es noch nicht. Doch bald darauf sah er nichts mehr. Er war gezwungen den Blick zu senken, eine Hand schützend vor seinen Augen, um zumindest noch zu versuchen etwas zu erkennen – obwohl es nichts gab, was man erkennen könnte. Der Schnee, der zuvor beständig gefallen war, schien sich nun mit geballter Kraft gegen ihn zu richten. Der Wind pfiff ihm um die Ohren, trieb harte Flocken gegen ihn. Als wollten die Naturgewalten ihn gemeinsam daran hindern weiter voranzukommen. Als hätte er bisher große Fortschritte gemacht. Aber woran wollte man das messen, wenn alles gleich aussah und Zeit nicht real erschien?

Verbissen ging Cedric weiter, auch wenn er sich gegen den aufkommenden Sturm auflehnen musste. Denn da gab es nichts anderes, dass er machen könnte. War es da nicht verständlich, sich an das Einzige zu klammern was ihm blieb?

  Wie lange noch, bis er erfror?

Und noch immer fühlte sich der Gedanke an bestehende Kälte seltsam an. Ja, er spürte sie, spürte wie seine Glieder zitterten, spürte es gleich einem Brennen an den ungeschützten Stellen seines Körpers.

  Aber wie konnte er frieren?

Wie konnte er frieren an einem Ort, der so unwirklich erschien?

Wie konnte er frieren, obwohl doch Kälte es war, die sein Innerstes erfüllte?

Ein Herz, überzogen mit Eis, da es vergessen hatte, wie man wirklich liebte?

Cedric stürzte auf die Knie. Der Schneesturm tobte und drückte ihn mit all seiner Macht weiter gen Boden. Es fehlte ihm die Kraft, sich erneut aufzurichten. War es nicht auch fiel einfacher, gar so viel schöner, einfach hier liegen zu bleiben?

Ein Seufzen. 

  „Wie bitter.“ Eine fremde Stimme. Nein, das stimmte nicht, nicht fremd – Cedric kannte sie nur zu gut. Eine leichte Enttäuschung in der Tonlage – er könnte sie überall wiedererkennen. Aber warum hier? Wieso ausgerechnet jetzt? Er wollte nicht aufsehen. Er wollte es nicht wahrhaben.

  „Hah, du hast meine Erwartungen tatsächlich unterboten…“, fuhr die Stimme fort. Cedric verspürte einen leichten Kick an seiner Schulter, nicht fest, nicht so das es wehtat, lediglich gezielt gesetzt mit der Absicht ihn aufsehen zu lassen. Als er dessen musternden Blick verspürte, konnte er nicht anders als wegzusehen.

 „Dieser Anblick spiegelt nicht mal ansatzweise die Armseligkeit deines Inneren wieder, weißt du das eigentlich?“, sagte Rick.

Es wunderte Cedric nicht diesem Mann hier zu begegnen. Er schlich sich trotz aller Bemühungen zu oft in seinen Kopf. Was ihn jedoch verblüffte war, dass er ihn zurück auf die Beine zog. Rick machte ein paar Schritte in die Richtung, die Cedric ursprünglich eingeschlagen hatte, ehe er sich wieder zu ihm umdrehte und eine Waffe auf ihn richtete. 

Ja, das passte schon besser in sein Weltbild.

Der Sturm hatte nachgelassen. Er wandte sich nun nicht mehr gegen ihn, sondern schien vielmehr die beiden Männer zu beobachten, zu umkreisen – einzukreisen. Oder?

  „Das kennen wir allerdings schon.“, sagte Rick und drehte daraufhin die Pistole in seiner Hand, sodass der Griff in seine Richtung zeigte. Cedric ergriff sie nicht. Rick seufzte und zuckte mit den Achseln. „Gut, dein Pech.“ Anstatt ihn jedoch erneut zu bedrohen, ging Rick einige Schritte zur Seite und enthüllte so eine Person, die zuvor von seiner Gestalt und dem Schnee verdeckt worden war.

Ran.

Schrie er? Vielleicht. Sicher war er sich nicht, denn er hörte seine eigene Stimme in diesem Moment nicht.

Sie trug ein geisterhaftes Kleid, ebenso weiß wie der Schnee in ihrer Umgebung. Ran kniete auf dem Boden, den Oberkörper jedoch gerade, als wollte sie so zeigen dennoch die Kontrolle über sich zu besitzen. Trotz der Arme, die hinter ihrem Rücken gefesselt waren.

Cedric wollte zu ihr hinlaufen, die wenigen Meter die sie trennten, als ein Warnschuss ertönte. Seine Intension war nicht unbemerkt geblieben.

 „Wie ich sagte.“, erklärte Rick gedehnt, „Dein Pech.“

 „Was hast du mit ihr gemacht?“, knurrte Cedric. Das erste Mal, das er in dieser Stille etwas sagte. Die Gefühle tobten in ihm, ganz anders zu der Taubheit, die er zuvor verspürt hatte. Er wurde den Gedanken nicht los, dass der Schnee eine Rolle gespielt hatte – als hätten die weißen Flocken ihn davor bewahren wollen.

Tatsächlich schien es, als würde seine Frage Rick amüsieren.

 „Weißt du Ced, dass finde ich so bemerkenswert wie nervtötend an dir: Deine grenzenlose Naivität und der Hang dazu, voreilige Schlüsse zu ziehen.“ Die kurze Freude im Blick dieses Mannes war verschwunden und hatte nun der Verachtung Platz gemacht.  „Ich habe gar nichts gemacht.“ Mehr sagte er nicht dazu. Er ließ Cedric jedoch nicht aus den Augen, auch nicht, als er sich hinter Ran stellte, die Waffe gefährlich nahe an ihrem Gesicht. Es musste sich nur versehentlich ein Schuss lösen… Ein Gefühl der Machtlosigkeit ergriff ihn, während der Schnee im respektvollen Abstand zu diesen drei Personen um sie herum tobte. Rick grinste, als er den entsetzten Ausdruck in seinem Gesicht erkannte.

 „Ich war es nicht, der sie jahrelang festgehalten hat und nicht loslassen konnte. Das hier hast du schön dir selbst zuzuschreiben.“, erklärte er großzügig, ehe jener Mann sich wieder aufrichtete und zwischen die beiden trat.

 „Was willst du von mir?“, brachte Cedric schließlich mühevoll hervor und allein die Tatsache, so die eigene Schwäche offenzulegen, war ihm zuwider. Doch er wollte nicht, niemals, egal was zwischen ihnen war, dass ihr etwas zustieß. Erst recht nicht durch seine Hand. Er würde tun, was Rick verlangte, um sie zu schützen. Nur hatte er vielleicht nicht richtig zugehört? Ein Glucksen war zu Hören und Cedric drehte den Kopf unwillkürlich zu jenem Mann um.

 „Cedric, du verstehst das ganz falsch; ich bin hier um dir zu helfen.“

 Bei diesen Worten kroch es ihm kalt den Rücken herunter. Niemals konnte das der Wahrheit entsprechen und niemals könnte er dem glauben. Lüge, Lüge, Lüge, es war eine, sicher war es das, es musste eine sein. Dieser Mann log stets. Was hatte er vor? Was bezweckte er mit dieser Farce, diesem Spiel? Rick kam nun langsam auf ihn zu und er wollte instinktiv einen Schritt zurücktreten, doch der Schneesturm ließ ihn nicht.

 „Wenn das so ist dann verschwinde, verschwinde einfach!“, schleuderte Cedric ihm entgegen, bemüht die Panik zu unterdrücken. Doch Rick tat ihm diesen Gefallen nicht, sondern ging, Cedric ignorierend, weiter auf ihn zu, bis er neben ihm stand und ihm eine Hand auf die Schulter legte.

  „Triff eine Entscheidung. Oder willst du weiter davonlaufen, wie der Feigling, der du nun mal bist?“ Es war Spott von ihm, doch den kannte er. Rick machte eine abwehrende Geste in die Umgebung hinaus. „Obwohl es nicht so aussieht, als könntest du noch irgendwo anders hin.“ Denn es war Weiß, alles war Weiß und es gab ganz einfach keinen Ort mehr, an den er noch flüchten konnte. Er musste sich der Person stellen, die er so lange nicht hatte loslassen können. Cedric blickte zu Ran hinab, die noch immer im Schnee kniete, den Blick unbeugsam aufrecht haltend.

 Rick legte die Pistole in seine Hände.

Sie fühlte sich kalt und schwer an. Falsch.

Schieß, wenn du sie endlich loswerden willst. Sie hat dich lange genug gequält und sich keinen Deut um dich geschert. Sie hat dich zurückgelassen, nur an sich selbst gedacht, also schieß wenn du es ihr endlich gleichtun willst!“

Es war fast, als wollte Rick, das er sie erschoss. Das er zum Mörder wurde. Doch wenn dieser Ort, diese Kälte nicht real, diese Leben nicht echt waren – verstummte er dann nicht einfach nur seine Gedanken, die ihn stets verfolgten? Würde diese Pein dann ein Ende haben, könnte er sich wahrhaftig davon befreien?

Cedric sah auf die Waffe, die in seinen zitternden Händen lag. Eine Erinnerung töten... was würde er dann von sich verlieren? Nun schwitzte er, die Schneeflocken die auf ihm landeten schmolzen sofort, anstatt haften zu bleiben.

Könnte er es tun?

Sie einfach vergessen, sich ein für alle Mal von ihr lossagen?

Cedric wandte den Kopf, richtete den Lauf der Pistole auf das Mädchen, welches stolz und stumm vor ihm im Schnee kniete. Er spürte die Macht dieses Instruments in seinen Händen – ein Instrument nun, nicht von künstlerischer Art, sondern um zu töten. Es durfte nicht sein, das ein simples Objekt ihm das Gefühl von Überlegenheit verlieh und doch glaubte er nun endlich, endlich, einen Schritt voraus zu haben. Könnte er sie endlich loswerden? Diese Frau, die nie gänzlich aus seinem Leben verschwunden war, sondern sich immer in Form eines parasitischen Gedankens gezeigt hatte? Ihn ausgelaugt hatte, wie ein Virus seinen Wirt?

Cedric atmete langsam aus, eine kleine Eiswolke bildete sich vor seinem Mund. Plötzlich war ihm warm. Die Hitze der Erregung, so kurz vor dem Ziel zu stehen, den Ballast abzuschütteln, der ihn so lange erdrückt hatte. Sie hinter sich zu lassen, keinen Gedanken mehr an sie verschwenden, an die Frau, die ihm so viel kostbare Energie geraubt hatte. So viele Möglichkeiten, so viele Eventualitäten. Endlich hatte er die Befähigung erhalten, sich vor sie zu stellen und sich von ihr loszusagen. In diesem Raum, der nur für sie beide geschaffen war.

Cedric packte den Schaft der Pistole fester, fast schon verzweifelt, krampfhaft.

Dann sah er in ihre Augen – und erstarrte.

  Was dachte er hier eigentlich zu erreichen?

Dieses klare Blau in denen sich derselbe Schmerz widerspiegelte, wie auch er ihn kannte. Dieses Blau, welches ihm so vertraut und doch so fremd geworden war. Egal wie stark der Wunsch sein mochte, all ihre Verbindungen zu kappen – er konnte es nicht. Er konnte diese Frau nicht töten, nicht einmal in seinen Gedanken.

Langsam ließ er den Arm mit der Waffe herab, sank schließlich zu Boden, die Hände im Schnee, die Kälte nicht spürend, den Blick nach unten gerichtet. Er schämte sich für seine Schwäche, schämte sich, so kurz davor gewesen zu sein ihr etwas anzutun, obwohl sich der Schmerz doch in Wahrheit gegen ihn selbst richtete. Schämte sich gleichzeitig, es nicht vollbracht zu haben und einfach keinen Schlussstrich ziehen zu können. Gab es keine andere Möglichkeit sich von ihr zu trennen? Musste es die Radikale sein? Er konnte das nicht, nicht so – oder war das nur ein Beweis dafür, das er sie noch immer wollte? An ihrer Seite sein, aufarbeiten was gewesen war, anstatt weiterhin davor wegzulaufen? Waren all seine Bemühungen, sie von sich zu stoßen, im Grunde nur lächerliche Versuche gewesen, weil er die Wahrheit nicht akzeptieren wollte? Verzehrte sich seine Seele tatsächlich noch nach ihr?

Er hasste sie. Für all das, was sie ihm angetan hatte, was allein die Erinnerung von ihr ihm angetan hatte. Doch er wusste auch, das sich dieser Hass in Wirklichkeit gegen sich selbst richtete.

Cedric spürte, wie jemand neben ihn trat und er hatte die Anwesenheit von Rick schon ganz vergessen. Rick, der in diesem Abbild nur eine Verkörperung darstellte, des Richters, der in seinem Inneren saß. Er hob die Waffe vom Boden auf.

Schade. Aber nicht anders zu erwarten.“ Mehr noch als enttäuscht, klang der Mann nun auch genervt. So, als hätte er sich viel Mühe gegeben mit diesem Szenario, hatte sich endlich Erfolg erhofft, nur um wieder zuzusehen, wie er scheiterte. Denn er war nicht einmal in der Lage einen Schatten zu töten.

Ein Schuss erklang.

Er zerschnitt die Stille, die Zeit verfloss. Langsam. Schnell. Wirr.

Cedric riss den Kopf hoch, Blut spritzte, Leben verging. Vielleicht schrie er. Er sah die Leiche vor sich liegen, das Rot ihres Seins benetzte das reine Weiß ihres geisterhaften Kleides. Denn ein Geist war sie gewesen und nicht viel mehr als das, doch weshalb dann, blutete sie? Wie dann, konnte sie sterben? Wie nur, hatte er es zulassen können? Eine weitere Schuld die er trug, selbst, wenn all dies nur in seinen Gedanken heim war. Der Schnee verfärbte sich, der Sturm stob erneut auf, ignorierte nun den Kreis, den er zuvor für sie gelassen hatte und so verschwand Ran hinter dem weißen Gestöber, unmöglich für ihn, sie jetzt noch zu erreichen.

Dann zerbrach die Welt. Diese Welt innerhalb der leeren Schneekugel.

Coverbild lizenzfrei von pixabay

Kommentar schreiben

Kommentare: 0