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Friedhofsgeflüster

Das alte Eisengitter quietschte, als mein Papa es öffnete. Ich stand ruhig neben ihm, ehe er mir bedeutete, hindurch zu gehen, damit er das Tor wieder verschließen konnte.

„Wo sind wir, Papa?“, fragte ich, bekam jedoch keine Antwort.

Er ging an mir vorbei und ich folgte ihm, sah vor mir seinen Rücken, nicht aber sein Gesicht. Später sollte es mir schwer fallen, mich noch an sein Gesicht zu erinnern. Damals jedoch zögerte ich nur kurz, bevor ich nach seiner Hand griff. Er schüttelte mich nicht ab, sondern drückte die meine kurz. Ein Zeichen, dass alles gut war.

Also folgte ich ihm stumm. Ich mochte diesen Ort nicht. Es war ruhig. Zu ruhig. Eine solche Stille kannte ich nicht. Niemand war hier. Nicht einmal die Sonne drang bis hierher durch, dabei brannte sie doch sonst so unermüdlich.

 

„Papa, was machen wir hier?“, fragte ich erneut, doch wieder begegnete mir nur ein Schweigen. Dann blieb Papa jedoch stehen und blickte auf einen großen Stein am Wegesrand.

Marianna Bäckers * 12.01.2020 + 03.05.2059

Seine Hand löste sich von der meinen, als Papa in die Knie ging und sein Gesicht in den Händen vergrub. Ein Schluchzen durchbrach die Stille, doch diesmal war ich es, der keinen Ton hervor brachte. Daher griff ich mit meiner Hand nach seiner Schulter, oder zumindest nach dem Stück Stoff seiner Jacke. Ich wollte mich an etwas klammern und vielleicht, so hoffte ich, verstand er warum.

Ein Jahr später fragte ich Papa schließlich. Der Ort lag noch genauso da, wie an dem Tag, an dem wir ihn verlassen hatten. Ich hatte mich nie getraut zu fragen, aber hier, an diesem Fleck Erde an dem die Zeit still zu stehen schien, wagte ich es endlich doch.

„Papa, warum ist Mama gestorben?“

Ich bemerkte, wie er sich versteifte, sah jedoch nicht zu ihm hoch. Stattdessen blickte ich nur auf diesen Namen, eingemeißelt dort vor mir, ein Name wie viele.

„Sie war sehr krank.“, sagte Papa nach einer Weile, die Stimme rau.

„Erinnerst du dich? Wir durften lange nicht zu ihr. Eine schlimme Krankheit.“

Ich erinnerte mich. In der Schule lernten wir, dass es ganz viele neue Erreger gab, weil die Erde ständig wärmer wurde. Und auch alte, die sich nun an Orte bewegten, wo sie vorher nicht gewesen waren. Viren, Keime, Bazillen. Schwierige Wörter, fand ich. Wörter wie aus einem Gruselmärchen.

 

 

„Schlimme Sache sowas.“
„Erst die Mutter, nun der Vater.“
„Hat er denn noch Verwandte?“
„Ich glaube nicht. Die Großeltern verendeten an der Hitze.“
„Da sind sie nicht die Einzigen.“
„Und nun?“
„Ich hörte, er komme wohl in ein Heim.“
„Ein Heim? Mit all den Flüchtlingskindern? Wer weiß was die noch einschleppen, da können wir ihn gleich mit begraben!“
„Sssshh, du kannst doch sowas nicht sagen!“
„Willst du mir etwa den Mund verbieten...?!“
„Seid still, er hört euch doch!“
„Wie ist das überhaupt passiert?“
„Soweit ich weiß, ist eine Auseinandersetzung eskaliert...“
„Das tun sie doch täglich!“
„Ja und täglich sterben Menschen dabei.“
„Wie immer. Die Welt ist ein einziger Friedhof geworden!“
„Ssshh!!“

Ich hielt mir die Ohren zu, kniff die Augen zusammen. Ich wollte sie nicht hören, all diese Stimmen, die tuschelten und murmelten und so viel redeten und doch nichts sagten. Ausgerechnet an diesem Ort, jener, der stets so still gewesen war.

Irgendwann wurde es ruhiger. Jemand wollte mich hochziehen, doch ich wehrte mich ohne die Augen zu öffnen, schüttelte nur vehement den Kopf.

„Gib ihm noch ein bisschen.“, sprach eine weiche Stimme, die ich nicht kannte und die Person ließ von mir ab.

Stille.

Schweigen.

Einsamkeit. Papa war nicht mehr da.

Ich blinzelte, vor mir wurden die Buchstaben nur schwer lesbar. Mein Blick war verschwommen. Hatte ich geweint? Meine Wangen waren nass.

Ich las den Namen von Mama. Den von Papa. Blinzelte erneut. Wenn nichts mehr blieb, außer ihre Namen, wollte ich mich zumindest so lange wie möglich an ihnen festhalten. Dann las ich noch etwas.

 

 

Marianna Bäckers * 12.01.2020 + 03.05.2059

Todesursache: Unbekannte Krankheit

 

Hannes Bäckers * 24.08.2016 + 19.07.2060

Todesursache: Gewaltakt

 

 

Verwirrt stand ich auf, folgte dem geisterhaften Pfad. Blickte auf all die Namen und nun auch all die Ursachen. Buchstaben, die auftauchten. Gründe, weshalb ihre Geschichten ein Ende nahmen.

Hitzetod, stand dort. Waldbrand. Sintflut. Luftverschmutzung. Sturm. Hunger. Durst. Ich fragte mich, wie mochte das wohl sein?

 

Wenn du im Wald bist und es brennt, plötzlich, unverhofft. Wenn du durch das Dickicht läufst, dich umblickst, vielleicht stolperst und nur noch siehst, wie ein Feuersturm sich über dich ergötzt? Oder ist es zuerst der Rauch, der dich niederstreckt?

 

Wie das wohl ist, wenn Wassermassen durch die Straßen brechen, ertrinkst du zuerst oder wirst du schlichtweg von den gewaltigen Wellen erschlagen?

 

Wie das wohl ist, wenn dein Hals trocken ist vor Durst und dein Magen sich nach etwas zu Essen verzehrt? Wenn da jedoch nichts ist, was dich ernährt und keine Luft mehr da, zum Atmen?

 

Wie das wohl war für Papa, der doch immer so friedlich war, in einen Konflikt zu geraten, der sein Leben beenden sollte? Und für Mama, in Unwissenheit verloren, da kein Arzt wusste, wie ihr zu helfen war?

 

Und warum standen all diese Worte, all diese Ursachen und Gründe, nun hier auf ihren Grabmälern? Sollte das nicht alles viel weiter weg passieren?

 

Ich blieb stehen, als etwas meine Aufmerksamkeit auf sich zog.

Jemand klopfte mit Hammer und Meißel weitere Buchstaben in einen besonders großen Leichenstein. Ich versuchte die Lettern zu erkennen.

Miami, stand dort, ertrunken. Jakarta. Ertrunken. Venedig. Ertrunken. Australien. Verbrannt. Amazonas. Verbrannt. Und noch so viele mehr.

So viele, so viele, so viele... Mein Kloß im Hals schwoll an, dennoch fragte ich:

„Du, warum mag uns Mutter Natur wohl nicht mehr?“

Der alte Mann hielt kurz in seiner Arbeit inne, als er sich zu mir umdrehte.

„Nun, wir haben sie auch nicht besonders gut behandelt, oder?“

Da verstand ich. Und trauerte. Lies die Tränen zu und weinte um das Schicksal dieser Welt.

 

Denn genau dafür war dieser Ort letzten Endes da.

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