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Der Tag, an dem ich eine Leiche fand

Es ist spät. Im Grunde genommen ist es genau so spät, wie es hätte sein sollen, doch dafür, dass ich unverhofft eine ganze Stunde früher losfahren musste, ist es spät. Das Hin und Her mit der Deutschen Bahn hat mir längst wieder den letzten Nerv geraubt. Anfangs habe ich noch gemütlich gelesen, seit Nürnberg vertreibe ich mir die Zeit nur noch mit kurzweiligen TikToks. Ich sehe auf die Anzeige, als der Schaffner eine Durchsage macht. Verspätung wieder aufgeholt, wer hätte das gedacht? Das heißt, ich bekomme meinen Anschlusszug doch noch –  bin ich froh, wenn ich zu Hause bin!

Als der Zug hält, sehe ich, dass der ICE spontan den Halt in Frankfurt Hauptbahnhof ausfallen lässt. Für die DB muss man echt immer dreimal mitdenken, um an sein gewünschtes Ziel zu kommen. Gut, dass ich laut Plan sowieso in Hanau umsteigen sollte.

Hanau. Der Klang ruft bei mir stets die Erinnerung an den Amoklauf im letzten Jahr hervor. Seitdem ich nach Frankfurt umgezogen bin, höre ich den Namen häufig. Zuvor wusste ich ehrlich gesagt nicht einmal genau, wo diese Stadt liegt.

Es ist kurz vor elf Uhr abends, als ich auf dem Bahngleis lande. Von Gleis 102 auf Gleis 6 – ich wundere mich oft, wie die Nummerierung so manches Mal vonstatten geht, weit auseinander liegen sie zum Glück nicht. Die Treppe runter, an der der Putz bereits abbröckelt und nur noch nackten Ziegelstein zurücklässt. Unheimlich. Heruntergekommen. Vereinzelt sehe ich Menschen, doch viele sind es nicht. Das ist ein Ort, an dem Menschen verschwinden. Der Gedanke schießt mir unweigerlich durch den Kopf, genauso wie der, dass ich hier mein Ende finden könnte. Ein Angriff, ein Überfall – es scheint hier merkwürdig nahbar. Es ist keine Angst, die ich verspüre, als ich durch die niedrige Unterführung gehe. Doch dieser Bahnhof um diese Uhrzeit bringt instinktiv eine erhöhte Wachsamkeit mit sich. Lange sollte ich hier immerhin nicht warten müssen.

Doch ich sehe bereits beim Aufstieg der Treppen, dass die Zeiten auf der Anzeige nicht stimmen, bis ich die verkündenden Buchstaben lese: „Zug fällt aus.“

Okay, das reichte. Noch unterm Gehen beginne ich die Sprachnachricht an eine Freundin, um mich bei ihr über die misslungene Fahrt heute zu beklagen. Nagut, der nächste Zug kommt zumindest auch schon in zwanzig Minuten, dass hätte auch wirklich schlimmer ausgehen können. Während ich noch spreche, rauscht ein Güterzug auf dem Nachbargleis hindurch, also schicke ich die Nachricht erstmal mit einem „Warte kurz“ ab. Ich drehe mich in Richtung der anrauschenden Güterwägen, um ihr Ende abzusehen, das Handy noch in der Hand, um die Sprachnachricht gleich weiterzuführen.

Das Geräusch verhallt schließlich, als der Zug vorüber ist, Stille kehrt ein.

Dann sehe ich da eine Gestalt zwischen den Gleisen liegen.

 

Kopf und Herz setzen einen Moment lang aus. Eine Sinnestäuschung? Das glaube ich einen winzigen Bruchteil lang. Aber- Nein... Nein.

Da liegt ein Mann zwischen den beiden Gleisen.

Beige Hose, ein dunkel kariertes Hemd, schwarzes Haar. Auf dem Bauch liegt er, die Arme am Körper anliegend, das Gesicht abgewandt. Ganz gerade, fast als hätte er sich so zum Schlafen hingelegt, in einem rechten Winkel zum gegenüberliegenden Gleis. Am Eisen zeichnet sich deutlich Blut ab. In dünnen Schlieren, dunkel. Mir weicht die Farbe aus dem Gesicht.

Ist er tot? Oder nur bewusstlos? Ich verstehe nicht, wieso die Menschen auf Gleis 7 nichts sehen. Der Winkel, vielleicht? Ob sich bei mir auf dem Gleis noch jemand befindet, nehme ich überhaupt nicht wahr. Ein Teil von mir will hinrennen, ihn umdrehen und da wegbringen. Hilfe leisten. Aber ein viel, viel größerer Teil schreit: Keinen Schritt weiter. Bloß nicht dahin! Und: Ich kann nicht auf die Gleise springen! Ich trau mich nicht, trau mich nicht...

 

Den Notruf zu wählen kommt mir nicht einmal in den Sinn. Als wüsste ein Teil von mir die Antwort auf die vorherige Frage bereits. Als die 110 antwortet, bin ich verwirrt, warum ich nichts höre. Die Kopfhörer waren noch verbunden. Bluetooth. Es dauert kurz, dann spreche ich mit jemanden.

"Da liegt ein Mann auf den Gleisen...", höre ich mich sagen. Wo? Hanau. Hanau Hauptbahnhof. Er regt sich nicht. Ich traue mich nicht hin. Da ist Blut. Ich bin unkoordiniert in meinen Ausführungen, kann auch immer noch nicht richtig einordnen und verstehen, was genau ich da sehe, obwohl es so klar vor meinen Augen ist. Ich weiß nicht, wann mir die Tränen stumm über die Wangen gelaufen sind, spüre nur den Weg, den sie sich bahnen. Die Fragen beantworten, das klappt gut. Dann höre ich undeutlich, wie der Mann mit seinen Kollegen spricht. Nur wenige Augenblicke später wie mir scheint, sehe ich schon das Blaulicht und höre die Sirenen. Er bedeutet mir, mich an die Kollegen zu winden, ich bedanke mich und höre nur noch ein: „Wir danken Ihnen!“, bevor ich mit fahrigen Fingern auflege und beinahe schüchtern die Hand hebe, um die Polizisten auf dem gegenüberliegenden Gleis auf mich aufmerksam zu machen. „Ähm, ich habe angerufen.“, sage ich und deute unsicher auf die reglose Gestalt. Man bedeutet mir, mich hinzusetzen. Ein Polizist ist schneller bei mir auf Gleis 6 als ich zu den Wartestühlen getrottet bin und zeigt direkt auf die andere Seite. Weg von dem Schaubild. Weg von dem was passiert. Ich bekomme nicht mehr viel mit.

Einzelheiten.

„Ich glaube, mein Zug kommt hier gleich.“, sage ich zu ihm.

„Hier fahren erst einmal keine Züge mehr.“

Oh. Ja. Natürlich.

Ich setze mich. Der Stahl fühlt sich kalt und nass an. Hat es geregnet?

„Wollen Sie Ihre Jacke nicht besser anziehen?“

„Mir ist nicht kalt.“

„Sie zittern. Könnte vielleicht auch ein Schock sein. Besser Sie ziehen die Jacke erstmal an.“

Also tue ich wie geheißen. Der Sitzplatz unter mir fühlt sich jetzt noch kälter an.

Dann gebe ich ihm wie gewünscht meinen Ausweis, beantworte ein paar Fragen und höre mir Mitgefühl an. Dabei ist mir ja gar nichts passiert. Viel zu sehen gab es ja auch nicht. Eher denke ich an ein Bild oder an einen Film. Anscheinend kann ich psychologische Betreuung in Anspruch nehmen. Aber was soll ich dazu noch sagen?

Ich zittere schlimm. Vielleicht ist mir ja doch kalt. Ich versuche ruhig zu atmen, dann wird das Zittern besser, kann es aber nicht durchhalten. Außerdem sind so, so viele Menschen hier. Ich weiß gar nicht, wie mir geschieht. Ich bin müde und alles was ich will ist nach Hause ins Bett.

Aber wie? Ich weiß nicht welche Bahn als nächstes fährt oder ob noch eine fährt. Und dann noch nach Hause laufen. Oder ein Taxi? So weit ist es ja nicht von Hanau bis Frankfurt, oder? Ob sie mir eins rufen können später? Am liebsten wäre mir, sie könnten mich einfach mitnehmen, aber dann fiel mir auf, dass ich gar nicht weiß, von wo aus die Polizisten kommen. Aus Frankfurt oder aus Hanau oder aus woanders her. Irgendwie auch gemischt, scheint mir.

Nein, mich kann niemand abholen. Das fragt man mich oft. Auch ob ich dann alleine zu Hause bin. Bin ich nicht. Darüber bin ich in dem Moment sehr froh. Ich hoffe es ist noch jemand wach, wenn ich nach Hause komme. Wann auch immer das sein wird. Einmal höre ich ein: „Sie haben alles richtig gemacht.“ Das freut mich, auch wenn ich mir denke, naja viel gab es ja nicht zu machen. Eine Nummer wählen. Viel kann ich ja nicht dazu sagen.

Sanitäter kommen. Ich lasse mir vorsichtshalber mal den Blutdruck messen, aber der ist bilderbuchmäßig. Ha! Das Angebot der psychologischen Betreuung kommt nochmal, aber ich empfinde aktuell keinen Bedarf. Der Sanitäter bittet den Polizisten darum, die Angebotsnummer vielleicht herauszusuchen, auf die ich die nächsten Tage sonst zurückgreifen könnte. Das finde ich sehr gut. Zwei bis drei Tage danach würde wohl oft dann doch mal Bedarf sein, höre ich. Mal sehen. Auf die Frage wie es mir geht, trifft es ein 'nur ein bisschen durch den Wind' im Grunde am besten. Ablenkung ist was Tolles, stelle ich schnell fest. Irgendwie kamen wir von meiner Heimreise dann auf Aschaffenburg, die der eine Sanitäter als schönste Stadt bezeichnet, die er je gesehen hat. Wusstet ihr, dass das erbaute römische Haus neben dem Schloss Johannisburg für die Unterbringung der Geliebten des Königs Ludwigs gedacht war? Davon stand aber nichts im Museum! Oder ich habe es überlesen...

Ich bekomme eine Decke! Zittern mildert sich ab, vielleicht ist mir doch nur kalt gewesen! Das Material ist seltsam. Erinnert mich an die FFP-Masken. Vegan, sagt der Sanitäter. Das ist gut, sage ich. 

Schließlich bringe ich die Frage über mich: „Ist er... tot?“ - „Ja, da war nichts mehr zu machen.“

Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass der Leiche mittlerweile ein weißes Tuch übergeworfen wurde.

Danach kommt einer von der Kriminalpolizei auf mich zu. Seriös wirkt er, hebt sich ab, indem er keine Polizei Uniform trägt. Ich darf nochmal alles haarklein wiedergeben. Irgendwie interessant zu sehen, wie er sich Notizen macht. Auf seine Frage hin, ob sich der Mann auf den Gleisen noch bewegt habe als ich ihn erblickte, schüttle ich nur den Kopf.

Wieder die Frage, ob mich jemand abholen könne. Ein älterer Polizist gibt an, dass Kollegen wohl später nach Frankfurt zurück müssen, die mich vielleicht mitnehmen können. Ja, bitte! Der von der Kripo wirft ein, dass es aber noch ein oder zwei Stunden dauern könnte. Das ist mir egal. Zeit hat für diesen Abend jegliche Bedeutung verloren. Ich höre am Rande, dass alle Gleise bis auf 5, 6 und 7 erstmal wieder freigegeben werden und bin doch erstaunt, wie schnell das geht, dass sowas dicht gemacht und blockiert wird. Danach geht es auf die Wache, weil es da wärmer ist. Einmal, zweimal unten durch am rot-weißen Absperrband. Wieder staune ich, dass sich eine Wache direkt am Bahnhof befindet. Ob das immer so ist? Die Uhr zeigt zwölf an. Mir wird ein Wasser angeboten, welches ich annehme, obwohl ich noch ein bisschen was in der Tasche habe. Ich sehe, wie er eine Glas und eine Flasche mit Kohlensäurewasser holt. Das mag ich eigentlich nicht, aber ich sage nichts. Ich unterhalte mich etwas mit dem Polizisten, es gibt ja sonst nichts zu tun. Und ob dann noch Fragen seien? Ich bleibe eine Weile stumm, ehe ich spreche. Eigentlich, nun, eigentlich frage ich mich nur, ob es ein Suizid war oder durch Gewalt verübt. Darauf gibt es keine Antwort.

Der ältere Polizist ist es schließlich, der mich mit seinem Kollegen nach Hause fährt. Darüber bin ich sehr sehr froh und sehr dankbar. Die Ereignisse wirken merkwürdig surreal auf mich und doch kann ich unmöglich direkt einfach so ins Bett gehen. Das Bild des Toten taucht immer wieder vor meinem inneren Auge auf. Ich will genau zwei Dinge: eine Umarmung und eine Tasse Tee. Und wieder bin ich froh, dass ich nicht alleine wohne, dass ich jemanden aus den Bett holen kann, dass sich meine Mitbewohnerin mit mir bei einer Tasse Tee in die Küche setzt. Und umarmt.

 

 

Auf einige Fragen gibt es keine Antwort.

Wie es kam, dass ich mich an diesem Bahngleis umdrehte und eine Leiche entdeckte.

Das nur, weil mein Zug ausgefallen ist und der Güterzug durchgerauscht.

Wäre der Zug nicht ausgefallen, wäre mir die reglose Gestalt vielleicht nicht ausgefallen. Oder wenn ich einfach in mein Handy gestarrt hätte, ohne aufzusehen. Wie so oft.

Auch hätte ich mich entscheiden können, zu schweigen. Nichts zu sagen, niemanden anzurufen. Einfach warten bis der nächste Zug gleich kommt, einsteigen und Adieu. Wann die Leiche wohl dann entdeckt worden wäre? In beiden Fällen?

Und wie seltsam, dass ich bereits beim Betreten des Bahnhofes dachte „Ein Ort an dem Menschen sterben“

und das tatsächlich der Fall ist.

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