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Wer bist du?

Wer bist du?

 

Er stand in einem leeren Raum. War es überhaupt einer? Oder befand er sich einfach im Nichts? Alles um ihn herum war schwarz – vorne, hinten, unten, oben. Schwärze. Dunkelheit.

Cedric sah sich um, niemand. Bis plötzlich – jemand.

Seine Schwester. Alessa.

„Wer bist du?“, flüsterte sie. Sie sah ihn nicht direkt an, schien vielmehr durch ihn hindurch zu sehen. Als wäre er gar nicht da. Nicht wirklich jedenfalls. Cedric öffnete den Mund, doch keine Worte kamen heraus.

„Wer bist du? Mein Bruder bist du nicht. Er würde sich mehr Mühe geben, das hat er schon immer gemacht, seit ich klein war. Hat mir jeden Wunsch nachgegeben und immer mal wieder vorbei gesehen. Du tust das nicht. Du hast das schon sehr lange nicht mehr getan. Bin ich etwa nicht länger die kleine Prinzessin? Warum schaust du nicht länger vorbei? Wer bist du und was hast du mit meinem Bruder gemacht?“

Die Worte kamen über ihn wie ein Schwall eiskalten Wasser. Cedric blieb der Mund offen stehen vor Entsetzen. Seine Augen hatten sich geweitet, doch hatte er keine Widerworte einwenden können. Alessa hatte in völliger Ruhe gesprochen – mit einer Ernsthaftigkeit, wie sie nur die Wahrheit tragen konnte. Das kann nicht sein. Das stimmt nicht, ich-

Sie war weg.

Nick stand vor ihm, der Blick ebenso leer, nicht direkt auf ihn gerichtet, stattdessen... an ihm vorbei. Oder hindurch. Ced wusste es nicht.

„Wer bist du?“ Seine Stimme klang ebenso unbelebt wie die seiner Schwester. „Mein bester Kumpel bist du nicht. Der hätte mich nie einfach so hängen lassen. Oft genug hab ich ihn rausgeholt aus seinem Schneckenhaus, ihn aufgemuntert. Aber auf die Idee gekommen, dass es auch andersrum mal ganz gut sein könnte, bist du nicht. Du bist ein Arsch. Mein bester Freund warst du wohl nie wirklich. Wer also bist du überhaupt?“

Ein Schlag in die Magengrube. Es war als könnte er den Schmerz förmlich spüren – jenen, den Reue und Schuldgefühle ihm erbrachten. Ced wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Es stimmte. Es war wahr. War es das nicht? Ah, das konnte es nicht sein oder? Hör zu, ich wollte das nicht, ich- Nick war verschwunden, noch bevor Cedric seinen Gedanken zu Ende bringen konnte.

Alice machte seiner Stelle Platz.

„Wer bist du?“ Ihre Stimme klang dünn und zart. Ihr Auge zierte ein Veilchen, auf ihrer Haut waren überall blaue Flecken zu sehen. Ihr Bauch war kugelrund. „Ein Freund bist du nicht. Ein echter Freund hätte die Misshandlungen gesehen, hätte erkannt was geschieht. Insbesondere wenn die Gewalt vom eigenen Bruder ausging. Wer bist du, dass du so blind durch die Weltgeschichte wandelst, es dir erlaubst die Augen vor allem zu verschließen?“

Der Grauen packte ihn. Das blonde Mädchen sah fürchterlich aus. Wie hatte er das nur zulassen können?

„Alice, ich-“, krächzte er, doch die Gestalt der Schwangeren war längst verschwunden.

Simon funkelte ihn an.

„Wer bist du?“, knurrte er, „Mein Zwilling bist du nicht. Der hätte mich verstanden. Der würde mich niemals hinterfragen und sich mir nicht in den Weg stellen. Was geht dich das alles denn an? Wer bist du, wenn du nicht mein Bruder bist?“

Die Aggression kam bei Cedric an, selbst hier, in diesem luftleeren, finsteren Raum ohne Grenzen. Kümmer dich um deinen eigenen Scheiß. Ja, wer war er für Simon überhaupt noch? Für irgendwen?

Cedric schloss für einen Moment die Augen. Er wollte sie nicht sehen, keinen von ihnen, nicht so. Nicht mit all der Verachtung, der sie ihm entgegenbrachten.

„Wer bist du?“, die Stimme war leise. Er wollte nicht aufsehen, sich nicht weiter mit dem auseinandersetzen, doch er hatte keine Wahl. Er kannte diese Stimme. So gut.

„Mein Verlobter bist du nicht. Der hätte mich nicht so schnell aufgegeben. Er hätte mich verstanden und mir keine Vorwürfe gemacht! Du hast mir den Rücken zugekehrt. Wer bist du wirklich und was hast du mit meinem Liebsten gemacht?“

Schuldgefühle packten ihn, ertränkten ihn. Er sah ihr Gesicht, Ran's Gesicht, doch auch ihr Blick war ausdruckslos. Als wäre sie selbst zu müde, sich dem Ärger und dem Frust noch weiter hinzugeben. Es hätte anders werden können, zwischen ihnen. Hätte es das? Die Gewissheit, dass dies noch nicht ausgestanden war, nagte an ihm, während ihr trauriges Gesicht in der Dunkelheit verblasste.

Lass mich aufwachen. Lass mich einfach nur aufwachen.

„Wer bist du?“ Ein Hauch nur.

Sein Herz setzte aus.

Doch es spielte keine Rolle, nicht hier, nicht wahr?

Er wollte es nicht, wollte es nicht hören, doch es brachte nichts, die Ohren zu verschließen. Sie sprach. Noita. Mit einer Stimme so leer, als befände sich kein Leben mehr darin. Als hätte er es ihr genommen.

„Kannte ich dich je wirklich? Hast du die ganze Zeit nur mit meinen Gefühlen gespielt? Für mich war es echt, weißt du? Ich verstehe das nicht. Wer bist du wirklich, wenn du nicht der bist, für den ich dich hielt?“

Er wollte schreien, doch kein Laut kam über seine Lippen. Wollte zu ihr, doch wich ihre Gestalt stets im selben Maße vor ihm zurück, gleitend, unnatürlich, wie ein Geist. Er erreichte sie nicht. Er würde sie nie mehr erreichen. Er hatte alles verloren, denn er war nicht mehr der, der er einmal war. Richtig. Doch wer war er dann noch?

Niemand.

Noita's Gesicht bekam einen Riss.

Niemand von Bedeutung.

Ein Riss, der sich ausbreitete, bis sie brach. Als wäre sie nur eine leere Hülle aus Porzellan.

Niemand, der sich kümmert.

Doch die Hülle war nicht leer. Unter der Schicht, die wirkte wie bemaltes Glas, kam die Silhouette von Ran zum Vorschein.

Niemand, der kämpft.

Sie brach, an anderer Stelle, doch ebenso leicht, ebenso fragil.

Niemand, der hinsieht.

Sie kamen alle zum Vorschein – leer, zerbrochen, kaputt. So wie er selbst auch die Beziehung zu all diesen Menschen zerstört hatte.

Niemand, der zuhört.

Ein groteskes Bild von übereinanderliegender Trümmerteile.

Niemand, an den man sich erinnern will.

Ihm wurde der Boden unter den Füßen weg gezogen. Nicht im literarischen Sinne, wortwörtlich. Die unendliche Finsternis, in der er sich befand, gab ihm nun keinen Halt mehr – sie verschluckte ihn.

Niemand, der es verdiente zu leben.

Cedric fiel. Er fiel und ließ das kaputte Frack an Personen zurück. Der Anblick wurde immer kleiner, doch bevor es gänzlich verschwand, zersplitterte die Figur in tausend Einzelteile. Menschen waren doch so überaus gläsern. So zerbrechlich, so fragil. Es brauchte nur einer Unachtsamkeit, um eine Wunde zu schlagen, die sich nicht wieder rückgängig machen ließ.

In wie viele Einzelteile er wohl zerschlagen würde?

Der unendliche Fall.

Er musste sich der Frage stellen, oder? Jener, wer er wirklich war? Wenn er nicht der war, für den sie ihn hielten, wenn er nicht der war, für den er sich selbst noch glaubte, wer war er dann? Zu wem war er geworden? Was von ihm war noch übrig?

Cedric schloss die Augen – ein lächerlicher Akt im Angesicht der durchdringenden Dunkelheit um ihn herum.

Er wusste es nicht. Klar war nur, er musste eine Antwort auf diese Fragen finden, denn nur so konnte es ein Weiter für ihn geben. Einen Weg, dem er folgen, den er gehen konnte. Und die Zeit wurde knapp, wenn er erhalten wollte, was vielleicht noch zu retten war.

Beeil dich.

Ced fürchtete den Aufprall.

Wer war er?

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