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Dream Six: Strayed

Kälte. Stille. Der frühe Abend verspricht eine helle Vollmondnacht, sofern die Wolken des Vortages sich nicht vor die leuchtende Scheibe schieben. Der Mann im Mond, eine fabelhafte Erzählung, mysteriöse Wesen – nicht in dieser Welt. Realität, so nennt man sie, wobei das was vor mir lag alles andere als real wirkt. Die Gassen sind klein und beengt, liegen in dunklen Schatten, da die Straßenlaternen nur noch flackernde Lichter in die entfernten Nischen werfen. Ein schauriges Bild. Schön? Halt, nein, nicht im Geringsten. Was tue ich hier? Habe ich es wirklich vergessen? Ist das… „Riverport?“ Ich flüstere den Namen des Ortes, den ich erhoffe. Doch wirkt die Stadt gerade derart fremd, dass es ein leichtes für den Zweifel ist, daran zu wachsen. Unwohlsein. Der Kern, dieses Gefühl, es verlässt mich dazu mich in Bewegung zu setzen, auf der Suche nach einem Sinn für mich. Ich gehe, schreite bemüht langsam voran, denn wenn ich anfangen würde zu laufen, habe ich Angst in Panik zu verfallen, fast so, als wäre es schon tausendmal so oder auf eine ähnliche Art und Weise passiert. Ergibt das einen Sinn? Vermutlich nicht. Doch bin ich genauso niemanden Rechenschaft schuldig und so muss ich mich nicht erklären.


Die Stille ist beängstigend, gruselig gar. Doch viel zu schnell geschieht es, da ist ebendiese durchbrochen, von einem Klang, der mir das Mark in meinen Beinen gefrieren lässt. Ein Schuss, ein grässlicher Laut, unendlich weit fern, so scheint es, doch das rede ich mir insgeheim nur ein. Ich weiß es. Es ist nah. Zu nah. Ich bemerke das ich laufe und ja, der Klang hat mich aufgeschreckt wie eine Hühnerschaar, doch warum renne ich zu dem Quell der Welle hin, anstatt vor ihm zu fliehen? Die Antwort ist lächerlich einfach. Ich habe Angst. Nicht um mich. Um sie.
Mit jedem weiteren Schritt kommen die Erinnerungen hoch, bahnen sich einen Weg vor zu meinem inneren Auge. Der Strand. Der Schuss. Der Hass. Angst, mehr noch, Panik. Mein Schweigen. Habe ich es erneut geschafft? Bringe ich sie allein durch meine Existenz in Gefahr? Warum? Warum, warum, warum? Ich keuche, bemerke wie meine Energiereserven weniger werden, registriere am Rande auch einen pochenden Schmerz in meinem rechten Oberschenkel, eine sanfte Erinnerung an die Wunde, die dieser Mann mir hinzugefügt hat. Es ist wahr. Noch immer kann ich es kaum glauben, doch spricht nicht alles dafür? Doch eine Sache beunruhigt mich weiterhin – denn warum nur wirkt alles so derart surreal? Ein zweiter Schuss durchbricht die frühe Nacht in dem Moment als ich um die Ecke laufe. Im rechten Augenblick. Im genau Falschen.
Ich bleibe stehen, erstarre. Sehe in ihre Augen, das Rot das sein Leuchten noch nicht verloren hat und dennoch ist die Fassungslosigkeit, die sich dahinter verbirgt deutlich auszumachen. Und wie treffend das Rot ihrer Iris ihrem eigenen Lebenssaft gleicht, der nun ihren Körper bedeckt. Als wäre ein Künstler hier am Werk gewesen!
Ich laufe, erkenne dies auch nur daran, dass sie mir so näher kommt. Stille, nein, es ist nicht ruhig. Es ist absolut tot, ein Stummfilm, ein Vakuum, ich höre nichts, nicht meine Schritte, nicht meinen Herzschlag, nicht mein Schreien, von dem ich überzeugt bin, dass es meine Lungen verlässt. Ich will sie erreichen. Muss. Noch während sie fällt.
„Noita!!“, Endlich, ihr Name, meine Stimme. Sie ist nicht tot, nein, das bildest du dir ein. Lass es ihr gut gehen, lass sie leben… Ich erreiche ihren reglosen Körper, der verfallen in dieser dreckigen Gasse liegt, am Ende der Welt. Vorsichtig ziehe ich sie auf meinen Schoß, versuche den Puls zu fühlen, einen Herzschlag auszumachen. Ich zittere dabei so sehr, dass es schwierig ist selbst dieser simplen Handlung nachzugehen. Und dann das Blut! Soviel Blut! Der rote Lebenssaft durchtränkt ihre Klamotten, schließlich meine, bis er sich langsam, zähflüssig auf dem grauen Asphalt ausbreitet. Nein, nein, nein! Meine Hände zittern stark, so war es schwierig zu handeln, mehr noch – was soll ich tun? Hier, jetzt, in diesem Moment, während sie vor mir stirbt, womöglich längst tot ist? Wie kann ich es stoppen, den Strom des fließenden Lebens der langsam aus ihr rinnt? Ich kann nicht glauben, was hier passiert, streiche eine Strähne aus ihrem Gesicht, als könnte ich mir so einreden, sie würde nur schlafen und so jeden Moment die Augen aufschlagen.
Soweit soll es nicht kommen. Noch ehe ich auch nur einen ansatzweise klaren Gedanken fassen kann, höre ich erneut Schritte, erstarre in ebjenem Augenblick. Der Mör-, der Täter, kommt er zurück? Unwillkürlich ziehe ich den leblosen Körper des Mädchens fester in meine Arme, als könnte ich sie so vor weiterem Leid beschützen. Lächerlich!
Aus dem halbdunkeln der Gasse tritt ein heranwachsender Mann, dem Gesicht gleich dem seinen. Ich atme instinktiv aus vor Erleichterung, bin ich doch nun nicht mehr auf mich allein gestellt, deenn auf wen, wenn nicht auf seinen eigenen Zwilling, ist sonst verlass? Ich habe meinen Mund bereits geöffnet um ihn um Hilfe zu bitten, um mich auf m einen Bruder zu stützen als ich seinen verwirrten, gar verstörten Gesichtsausdruck bemerke. Simon weicht einen Schritt zurück.
„Cedric… was… was hast du getan?“
Meine Gesichtszüge entgleiten mir. Das glaubt er nicht wirklich, dass-
„W-Was… ich.. verstehe nicht, was-,“ Mehr als ein Stottern schaffe ich nicht. Warum reagiert er so? Meine Kehle schnürt sich zu, ich schnappe nach Luft, die mein Körper kaum durchlässt, ehe ich falle.
Alles ist dunkel, ich kann die Hand vor meinen Augen nicht sehen. Noita?! Nichts. Sie ist weg, verschwunden. Doch wohin? Was geschieht hier?
Ein Licht erscheint in weiter Ferne, ein Scheinwerfer, die eine Person beleuchtet, die gemäßigen Schrittes näher an mich herantritt, bis ich in der Lage bin, dessen Gesicht auszumachen. Es ist Rick. Meine Mundwinkel verziehen sich zu einem gequälten, verzweifelten Ausdruck. Ich komme nicht gegen ihn an, nicht hier, nicht jetzt. Er hat es nicht eilig – warum auch? Es ist ja nicht so, als könnte ich weglaufen – obwohl ich so gerne würde! Ein Schwächling, ja, das bin ich, doch selbst mein Eingständnis hilft mir hier nicht weiter. Nichts kann mir helfen, wann begreife ich es endlich? Schlussendlich steht er vor mir, abwartend, abwägend und ich warte auf eine Aktion, eine grausame Geste vielleicht, denn was bleibt mir anderes übrig als zu warten, wenn mich die Finsternis doch sowieso an den Boden fesselt? „He.“, höre ich schließllich die missmutige Stimme des Amerikaners, ehe ich seinen Schuh unter meinem Kinn spüre, wodurch er mich zwingt ihn direkt anzusehen. Ich habe weggesehen? Es ist mir nicht aufgefallen. „Du machst es mir leichter als gedacht, Idiot~.“ Sein Lachen, selbstgefällig und falsch wie immer, ehe er mich zurück auf den Boden tritt und kurz in eine andere Richtung blickt. Ich spüre sein Desinteresse, doch was mich noch viel wütender macht, ist meine eigene Unfähigkeit – aber sollte ich es nicht längst gewohnt sein? Unerwartet ist er in die Knie gegangen und packt mich nun an meinen Haaren. „Sagmal, hast du Vollidiot mir tatsächlich geglaubt? Das ist ja fast schon niedlich! Was meinst du diesmal, ist diese hier-,“ Er zieht eine Pistole hervor und wedelt damit vor meinen Gesicht herum, ehe er die Waffe ruhig auf das Stück Boden zwischen uns legt. „Echt oder nicht echt? Verantwortlich für den Tod deiner kleinen Freundin oder nicht? Und falls ja, hach, wer mag nur der Mörder sein…?“ Mit diesen Worten verschwindet das grausame Abbild vor mir, als wäre es nie dagewesen. Hektisch taste ich nach der Knarre vor mir und sei es nur, damit sie mir nicht noch ein weiteres Mal zum Verhängnis wird. Ich höre Schritte. Ich stehe auf, kann aufstehen. „Wer.. ist da?“, erkundige ich mich schließlich misstrauisch, da es absolut dunkel ist. Die Waffe halte ich vor mir, obwohl ich weiß, dass ich damit kein Stück umgehen kann. „Sag, Cedric.“ Eine Stimme, eine Frauenstimme, bei der es mir kalt den Rücken runterläuft, weil ich genau weiß wem sie gehört, was absolut unmöglich ist. „Das du mich so einfach aufgibst! Hast du mich denn wirklich schon vergessen?“ Ich spüre Ran direkt vor mir, noch ehe ein Licht sie etwas erhellt. Du lebst. Ich spreche die Worte nicht, traue mich nicht, klingen sie doch so albern! Sie vergräbt das Gesicht in meiner Brust, wodurch es mir schwer fällt, es als eine Illusion abzustempeln. „Ich hab dich vermisst..“ Ein leises Murmeln, langsam, zögerlich lege ich einen Arm um sie, immer noch verwirrt von dem aktuellen Geschehen. „Ich dich auch-,“ Die Worte kommen wie von selbst über meine Lippen und ich selbst weiß nicht, ob sie wahr gesprochen oder erlogen sind. „Wir können noch einmal anfangen, meinst du nicht?“ Hoffnungsvoll sieht sie auf, fesselt mich mit ihren blauen Augen und so bemerke ich nicht, wie ihre Hände sich langsam an meinen Armen herabhangeln. „Es wäre auch ganz leicht.. Wir müssten nur die Störfaktoren beseitigen und alles wäre wie früher.“ Ihre Rechte ergreift die Pistole und ich realisiere einen Moment zu spät, wie einfach ich die Waffe aus der Hand gegeben hatte, wie unglaublich dumm und naiv ich doch bin, wo ich doch weiß, was mich an einem Ort wie diesen erwartet! Ran löst sich schnell von mir, bringt einen sicheren Abstand zwischen uns. „Was… hast du vor?“, frage ich leise ohne den Blick ein weiteres Mal von ihr abzuwenden. „Was ich gesagt habe. Ich liebe dich Cedric und ich kann dich nicht an jemand anderes verlieren! Erst recht nicht jemanden wie sie! Verstehst du das nicht?“ Langsam strecke ich meine Hand aus. „Gib sie zurück. Bitte.“ Es ist mir selbst ein Rätsel, wie unglaublich fest meine Stimme klingen kann. »Ceddy…?« Ich reiße den Kopf herum und suche nach dem Ursprung des Rufes. Als ich den Blick wieder auf Ran richten will, ist diese bereits losgerannt und ich habe Mühe das brünette Mädchen einzuholen. Von meiner Bestimmtheit von eben ist nichts mehr zu spüren und ich gerate erneut in wachsende Panik. Tu ihr nichts, bitte… tu ihr nichts!

Ich schrecke hoch. Ich. Cedric. Es fällt schwer, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Es musste seltsam aussehen. Sein Herz schlug wie verrückt, als wäre es einen Marathon gerannt, die rechte Hand hatte er ausgestreckt und er erinnerte sich daran, dass er jemanden nachgerannt war… Ran. Schnell nahm er seine Rechte und fuhr sich damit die blonden Haare aus dem Gesicht, wobei ihm einmal mehr bewusst wurde, wie verschwitzt er war. Was Angst und Panik nicht alles mit einem Menschen anstellen konnten…? Man könnte es faszinierend finden, wahrlich, wenn man nicht selbst irgendwie in seinem eigenen Gedankennetz gefangen war. Grässlich, wahrhaft, grässlich! Cedric versuchte sich zu orientieren. Etwas oder jemand hatte ihm aus seinem zauberhaft schönen Traum gerissen, noch ehe er das Unheil gänzlich abwenden konnte. Wobei das sowieso nicht passiert wäre… das wäre neu gewesen. Sollte er also dankbar sein? Vermutlich. Nur… wem? Es scherte sich doch niemand um ihn? Es dauerte einen Augenblick bis Cedric in der Lage war den Blick zur Tür zu richten, wodurch er sich einmal mehr fragte ob er nicht immer noch schlief. Es würde passen, sehr treffend sogar. „Träume ich noch…?“, stellte er die Frage daher tatsächlich laut, fand er sie doch wahrlich als berechtigt gestellt. „Matze…?“ Er war sich nicht sicher. War es sein Vater der da etwas verloren in der Tür stand oder Simon oder er selbst oder doch nur ein weiteres Trugbild, das ihm so etwas wie Hoffnung vorgaukeln wollte? Ja, wer wusste das schon? Er nicht, doch es war dem Jungen scheißegal, noch hatte er den Mut tatsächlich zu hoffen und solange er diesen hatte, würde er auch nicht aufgeben. Noch nicht.