· 

Dream Five: Cedric in Wonderland

Alice! Wo bist du nur… Alice?

Cedric blinzelte.

Es wurde langsam Sommer. Heute war der erste heiße Tag des Jahres und Cedric Evans hatte sich mit seinem Geschichtsbuch unter einen Lindenbaum gesetzt um zu lernen. Ganz offensichtlich war er dabei eingeschlafen, denn die Sonne stand mittlerweile tief im Zenit und auch die Temperatur war merklich gesunken. Als er aufwachte, blickte er in ein Gesicht, gleich dem seinen: Simon hatte sich grinsend über ihn gebeugt. »Morgen Siebenschläfer!« Cedric sah ihn verwundert an. »Hast du Alice gesehen?« Alice? Welche Alice? »Meine Freundin natürlich, welche Alice denn sonst? So viele Alice wird es in Destiny Valley ja wohl kaum geben, oder?« Natürlich, Katja’s Tochter. Im selben Jahrgang wie Alessa, ihrer kleinen Schwester. Die so klein nicht mehr war. Cedric fuhr sich durch die blonden Haare. Wie konnte man bei all diesen kuriosen Beziehungsrelationen in diesem Kaff denn den Überblick wahren? Er konnte es nicht und wollte es auch nicht. »Noch nicht ganz wach, hm?« Simon schielte auf sein Geschichtsbuch. »Und den ersten heißen Tag des Jahres verbringst du mit Büffeln? Oller Streber!« Sein Bruder grinste ihn wieder an. Weshalb sah er sich selbst nie so grinsen? »Naja, ich geh weiter Alice suchen. Schlaf nicht wieder ein!« Okay. Versprochen. »Sonst endest du so wie Onkel Gray.« Eine Warnung? »Allerdings hoffe ich dann, dass es bei dir der Siebenschläfer bleibt.« Red keinen Unsinn. Simon. Woher nimmst du nur diese Unbeschwertheit? »Ich kann es mir halt leisten!« Ein weiteres Grinsen. »Okay Ced, mach’s gut, wir sehen uns später.« Simon lief davon, winkte ihm hinterher. Cedric sah seinem Zwilling nach, auch als er schon längst verschwunden war. Solange, bis etwas anderes seine Aufmerksamkeit erregte.

Es war ein schwarzer Hase.

 

Unwillkürlich musste Cedric an Ran denken. Seine Mundwinkel zuckten und verzogen sich zu einem leichten Lächeln. Der Junge streckte die Hand auf um das Häschen zu streicheln, als er unwillkürlich inne hielt. Die Kirchturmuhr schlug erst vier mal, zur vollen Stunde und dann fünf mal, für fünf Uhr. So spät war es schon? Kaum war der letzte Schlag verklungen, sprang das Häschen auf und hoppelte im Zick-Zack davon. Ced sah dem Nager verwundert hinterher. Merkwürdig. Die Glockenschläge konnte es nicht erschreckt haben, sonst wäre es doch gleich aufgesprungen? Nicht erst nach dem neunten Schlag?

Verdutzt über diesen komischen schwarzen Hasen stand Cedric schließlich auf. Die untergehende Sonne hatte den Himmel mittlerweile blutrot gefärbt, versuchte mit ihren letzten Strahlen noch etwas Farbe in die Welt zu bringen, ehe die Nacht alles verschlucken würde. Solange bis der nächste Tag anbrach.

Wo das Häschen wohl hingehoppelt war? Unschlüssig ging der Junge ein paar Schritte in die Richtung, in der das Tierchen seiner Ansicht nach verschwunden war. Ein Rascheln, links von ihm – da war es wieder! Ced rannte hinterher.

Moment.. warum stürzte er eigentlich einen schwarzen Hasen hinterher? Kopfschüttelnd über sein eigenes seltsames Verhalten wandte er sich um, wollte sein Geschichtsbuch nehmen und gehen. Allerdings war das Geschichtsbuch weg. Und der Baum an dem er gelegen hatte auch. Stattdessen war das schwarze Häschen wieder da. Cedric blinzelte. War es gewachsen? Quatsch. Wie sollte ein Hase denn so schnell wachsen? Der Hase starrte eine Weile den Baum an und verschwand im nächsten Moment erneut. Cedric legte den Kopf schief. Wohin sollte ein großer schwarzer Hase denn plötzlich verschwinden? In einen Kaninchenbau? Nein, wir redeten immerhin von einem Hasen und nicht von einem Kaninchen. Stirnrunzelnd bewegte sich Cedric in Richtung Baum und kniete schlussendlich vor einem Loch. Der Junge spähte hinab, doch ihm kam nur gähnende Schwärze entgegen. So, Rätsel gelöst – das Häschen war im Kaninchenbau verschwunden. Doch wo war das Geschichtsbuch?

Die Turmuhr schlug eins. Das verdammte Häschen hatte ihn sage und schreibe eine Viertelstunde lang beschäftigt! Sich über sich selbst ärgernd, stand Cedric auf, rutschte dabei jedoch ab und fiel in das vermaledeite Loch.

Er fiel in ein vermaledeites Kaninchenloch!

 

Als Cedric wieder zu sich kam, musste er feststellen, dass er von Dreck und Schlamm besudelt, in einem Erdloch festsaß. Über ihm die Kuhle, durch die er gefallen war, schadenfroh grinsend. Nein Quatsch. Löcher grinsten ja nicht. Und wo war der schwarze Hase hin? Ein Hase in Erdlöchern. Wahrlich ein sehr sehr merkwürdiger Hase.

Links oder rechts? Seine Ausgansposition gab zwei mögliche Wege preis. Links. Der Tunnel mündete nach nicht allzu langer Zeit in einen runden, geschlossenen Raum mit vielen unterschiedlichen Türen und hoher Decke, die bis ins Unendliche zu reichen schien. Einige Türen waren zu klein um durchzupassen, zu schwer um sie zu öffnen oder zu hoch gelegen, um sie zu erreichen. Andere waren zu groß, um an die Türklinke zu kommen oder hatten erst keine. Es gab Türen, die sahen aus wie die Wand selbst, schlichte und reich verzierte, einige ließen sich leicht öffnen, andere waren aufs Kurioseste verschlüsselt. Und es gab nur eine, die exakt auf seine Größe zugeschnitten war, doch die ließ sich nicht öffnen. Ced kramte in seinen Hosentaschen: rechts fanden sich ein paar Münzen, links sein Handy. 17:32. Er sollte langsam einen Weg nach draußen finden, ansonsten würde er nur zu spät nach Hause kommen. Allerdings, so dachte er im nächsten Moment, würde es wohl eh niemanden auffallen und selbst wenn jemand die Aufmerksamkeit besitzen sollte, sein Fehlen zu bemerken, so würde die Person höchstens mit den Schultern zucken und sich weiter seiner Beschäftigung widmen – was auch immer das gerade sein mochte. Besorgnis? Weit gefehlt. Aber es gab andere Sachen worüber er sich jetzt den Kopf zerbrechen sollte. Ja richtig, einen Ausweg zu finden beispielsweise und alles was er dazu brauchte, war ein Schlüssel um die Tür, vor der er nichtstuend stand, zu öffnen. Da sich in den Hosentaschen nichts fand, kramte er in seinen Hemdtaschen, wobei ihm auffiel, wie dreckig er vom Sturz ins Erdreich noch war. Ced klopfte sich den groben Schmutz von den Klamotten, den Haaren, dem Gesicht. Ein Schlüssel fand sich übrigens tatsächlich, nämlich in der Brusttasche seines Hemdes. Es war der Haustürschlüssel für den Katzenkorb, seinem sogenanntem Zuhause. Er passte. Ced drehte den Schlüssel herum, drückte die Klinke herunter und schob die Tür – ein schweres Exemplar mit altmodischen Verzierungen aus Eichenholz – auf. Tatsächlich fand er sich im Katzenkorb wieder, jedoch war es nicht sein zu Hause.

 

Die Tür fiel knarrend ins Schloss. Cedric’s Augen benötigten eine Weile, bis sie sich an das schummrige Dämmerlicht gewöhnt hatten. Das Erste was ihm ganz nüchtern auffiel war, dass er ungefähr die Größe einer Maus besaß. Wenn nicht noch kleiner. Verglichen mit einer Schüssel voller Katzenfutter, die neben ihm stand. Es roch ganz furchtbar nach Katzenfutter. Staubig war es auch. Also, nicht das Katzenfutter, aber der Boden und mit Sicherheit auch die Möbel, hätte er sie von oben betrachten können.

»Miau.« Cedric blinzelte. Ein schadenfrohes, tiefes Gelächter erklang hinter ihm. Der Junge drehte sich um und blickte direkt in ein Paar smaragdgrüner Augen. Die Augen einer Katze. Und dann war sie auch noch schwarz. „Schwarze Hasen und Schwarze Katzen. Mein Glückstag ist wann anders, oder?“, sagte Cedric leise. »Ganz Recht, Kleiner.«, Die Stimme, die ihn begrüßte, klang tief und kehlig. »Ich geb dir n Tipp: Renn solange du noch kannst.« Und die Katze grinste ihn an. So ganz schadenfroh. Ced ließ sich das nicht zweimal sagen und nahm sprichwörtlich die Beine in die Hand. Erst im Laufen fragte er sich, was das Ganze überhaupt sollte. Seit wann sprachen Katzen und warum lief er überhaupt davon? Der Kater war ganz klar im Vorteil, da half all die Rennerei sowieso nichts. Ced drehte, während er lief, den Kopf nach hinten – wurde er gar nicht verfolgt?

»Buh.« Ced sackte das Herz in die Hose, als der Kater vor ihm auftauchte. Schlitternd blieb er stehen. Wie konnte das sein? Wie konnte die Katze vor ihm auftauchen, wenn sie hinter ihm gewesen war? Verständnislos blickte er der Katze in die grünen Augen und schluckte. »Gestatten? Cheshire, die Grinsekatze.« Wie um ihren Namen aller Ehre zu werden, grinste Cheshire ihn an und drehte dabei ihren Kopf ins Unermessliche, ehe er Ced mit einer Pfote packte. So baumelte der Junge hilflos in der Luft, wodurch das Grinsen der Katze beinahe noch breiter wurde. »Ah, Kleiner, vor mir brauchst du wirklich keine Angst zu haben. Aber was faselst du da von schwarzen Hasen?« Klar, an deiner Stelle hätte ich auch keine Angst. Immerhin rede ich täglich mit einer riesigen Katze in einem riesigen Haus und baumle nebenbei lässig in der Luft. Doch Ced funkelte den Kater nur an, ehe er auf den Hasen zu sprechen kann. „Da war ein Hase. Ich bin ihm hinterher und in ein Loch gefallen und jetzt bin ich hier.“ »Nette Geschichte, Kleiner. Allerdings wird das wohl ein Kaninchen und kein Häschen gewesen sein, meinst du nicht?« „Ich werde doch wohl einen Hasen von einem Kaninchen unterscheiden können!“, begehrte Cedric auf. Die Grinsekatze lachte, was fast noch unheimlicher war, als ihr andauerndes Gegrinse. Dem Jungen lief es kalt den Rücken runter. »Achja? Wovon unterscheidet sich denn ein Hase von einem Kaninchen?« Ein Hase von eniem Kaninchen? Nun.. Cedric geriet ins Stocken. Was sollte ein Kaninchen schon von einem Hasen unterscheiden? Waren sie kleiner? Die Ohren? Aber es war ein Hase gewesen, aus, basta, egal was die Katze da palaberte. Er redete gerade mit einer Katze, wie viel konnte man da schon auf solch ein Wort legen?

»Hör mir mal zu. Es ist ein Kaninchen, das weiße Kaninchen, dass Alice ins Wunderland führt, klar? So sind nunmal die Regeln, also hör auf von irgendwelchen Hasen zu philosophieren.« Während Cheshire sprach, schwenkte er Cedric wie einen Spielball in der Luft hin und her, sodass diesem ganz schwummrig wurde. Er zerrte an seinen Fesseln, doch der Kater hatte ihn fest in seiner Pfote. „Es war aber nunmal ein schwarzer Hase – oder willst du nun auch noch behaupten, dass ich farbenblind sei? Außerdem ist mein Name nicht Alice, das ist ein Mädchenname, okay?“ Die Grinsekatze sah alles andere als vergnügt aus. Ced war mittlerweile so nah an dessen Gesicht, dass ihm ganz bang war. „Und ich schmecke mit Sicherheit fad.“, setzte er noch schwach hinzu. »Nicht Alice, huh?« Ohne Vorwarnung pfefferte der Kater ihn von sich. Ced knallte unsanft gegen ein übergroßes Tischbein. Moment – unsanft? Ein Tag der leichten Untertreibung. Sein Umfeld verschwamm einen Atemzug lang vor seinen Augen und jeder einzelne seiner Knochen schien zu rebellieren. Ugh. Er schmeckte Blut an der Lippe, wahrscheinlich hatte er vor Schreck über seinen plötzlichen Flug draufgebissen, doch immerhin schien – wundersamerweise – nichts gebrochen zu sein.

»Nicht Alice? NICHT ALICE?«, polterte der Kater und kam bedrohlich näher, allerdings fehlten Cedric Zeit und Kraft sich rechtzeitig aufzurappeln und davonzulaufen. Was… vermutlich sowieso ohne Aussicht bleiben würde. »Wir brauchen eine Alice verdammt. Ein Mädchenname? Das ich nicht lache!« Die Grinsekatze ließ sich vor ihm auf die Hinterpfoten plumpsen. Glück gehabt.

»Ah, entschuldige Kleiner.. ich dachte nur, blonde Haare, blaue Augen – du hättest verdammt nochmal Alice sein können, nach all der Zeit. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Aber gut, sei’s drum. Sag, wenn dein Name nicht Alice ist, wie lautet er dann?« Cedric rieb sich den Schädel. Himmel, dieser Kater sollte unbedingt lernen, sein Temperament besser in Zaum zu halten, obwohl er gerade fast harmlos schien. Nun, sagen wir, erscheinen würde, wenn er ihn aus normaler Größe betrachten könnte. Der Junge blieb skeptisch. „Cedric. So heiße ich.“ Nach einer Weile: „Weshalb erwartest du Alice?“ Der Kater sah ihn mit seinen großen grünen Augen an. »Alice.«, begann der Grinser langsam und seine Augen wurden trübe. »Alice war seit jeher ein erfrischender Hoffnungsschimmer im Wunderland. Doch mittlerweile ist meine Gräfin tot und ich vergammel hier als alter, einsamer Kater. Auch der Herzkönig ist verstorben und die Herzkönigin regiert das Wunderland alleine. Blutrote Königin!«, fauchte die Katze und entblößte ihre spitzen Zähne.

»Achja, wohin mag die Weiße Königin nur verschwunden sein? Ich geb dir nen Rat, Kleiner: Such den Märzhasen und den Hutmacher, ich glaube fest daran, dass die beiden da draußen noch ihre verrückten Teepartys schmeißen.« Ein typisches Grinsekatzen-Grinsen machte sich breit, ehe der Kater sich in Luft auflöste und einen Berg voller Rätsel zurückließ.

 

Cedric atmete schwer. Katze. Verdammte Katze. Was war das nur für eine merkwürdige Katze gewesen? Der Junge raffte sich auf und stemmte sich am Tischbein hoch. Eine Sache war ebenso seltsam: Während er seine Spuren im Staub hinterlassen hatte, war von Cheshire nicht das leiseste Anzeichen seiner Anwesenheit übrig geblieben.

Als wäre er nie dagewesen.

Er wischte sich über die aufgeplatzte Lippe. Nein, Cheshire war zweifelsohne hier gewesen, diese fette Katze war verdammt nochmal real. Märzhase und Hutmacher? Wollte er sich das wirklich noch antun? Er seufzte. Musste er wohl, einen Weg zurück gab es nicht. Außerdem wollte er nicht auf Dauer so winzig bleiben. Ob der schwarze Hase ihn geschrumpt hatte, damit er durch das Erdloch passte? Nun, wenn die Grinsekatze die Fähigkeit besitzt, zu verschwinden und aufzutauchen, wie es ihr beliebte – dann konnte der schwarze Hase doch theoretisch genauso die Fähigkeit besitzen, Leute zu schrumpfen und vielleicht auch wieder wachsen zu lassen.

Sollte er also nicht eher den schwarzen Hasen suchen, anstatt Märzhase und Hutmacher? Ced seufzte abermals. Im Endeffekt war es egal, denn er wusste weder wo das eine noch das andere zu finden war. Erstmal musste er einen Weg raus aus diesem Haus finden. Der Junge ging aus der Deckung des Tisches und sah sich in dem ziemlich in Mitleidenschaft gezogenen Raum um. Ohjeh, hier einen Ausgang zu finden, würde vielleicht doch nicht ganz so einfach sein, wie erwartet. Eine Tür konnte er mit seiner Größe nicht öffnen, also musste er sich etwas anderes überlegen.

Wah-“ Eine Pfote erschien aus dem Nichts und deutete auf die Tür, genauer gesagt: die Katzenklappe in ebendieser. Sehr witzig, elender Kater. Ein Auge zwinkerte ihm zu, ehe es schließlich wieder verpuffte. Gruselig, sich mit einzelnen Körperteilen vergnügen zu müssen. Aber Cedric tat, wie ihm geraten und quetschte sich durch die Katzenklappe nach draußen.

 

Es regnete.

Der Himmel zeigte sich in einem eintönigen Grau und Nebel umhüllte das Haus, nein, dem kleinen Schlösschen des Grinsers. Cedric erinnerte sich, dass der Kater eine verstorbene Gräfin erwähnt hatte, was zumindest eine Sache war die ein rundes Bild ergab. Das ganze Anwesen erinnerte ihn ein kleines bisschen an die Villa seiner Tante Suiren, doch das war absurd. Cedric zuckte mit den Schultern, beließ es dabei und drehte sich schließlich weg, um weiterzusehen, weiterzugehen. Der Weg vor ihm war schmal, uneben und geschwungen. Zudem war es ein klein wenig deprimierend, kaum über Gräser hinwegzusehen und aufpassen zu müssen, dass ihn kein Regentropfen durchnässte, gar erschlug. Ob das möglich war? Himmel, wo war er hier nur gelandet?

Cedric sah sich um, versuchte aus irgendetwas irgendeinen Vorteil zu ziehen und wandte sich schließlich an das Gestrüpp am Wegesrand. Mühevoll zog und zerte der Junge an dem Blatt einer Blume, bis es sich schließlich widerwillig von seiner Heimat trennte. „Hey, wir müssen alle mal flügge werden.“, beschwichtigte Ced seinen neu erkorenen Regenschirm, ehe er sich auf den Weg machte. Er hatte das Gefühl ein vertrautes Wispern begleitete ihn, während er einen Fuß vor den anderen setzte. Kurz glaubte er es handelte sich dabei wieder um die vermaledeite Grinsekatze, die sich einen Spaß erlaubte, doch erschien ihm das im Nachhinein mehr als unwahrscheinlich. Vielleicht wurde er inmitten all dieser Verrücktheiten auch einfach nur selbst verrückt. Oder war es längst. Wer vermochte das schon mit Sicherheit zu sagen?

Das Schlösschen verschwand in den Nebelschwaden, der Weg war wenig spektakulär. Wobei Cedric mit seinen aktuell recht kurzen Beinen kaum vorankam. Als es aufhörte zu regnen, schmiss er das Blatt weg und setzte sich an den Wegesrand. Mittlerweile hatte der Junge ziemlich Hunger bekommen, doch wie sollte er hier irgendwas finden? Wunderland. Ja, klar.

Cedric saß nicht lange dort, verzweifelt versuchend sich etwas Gutes zu überlegen, bis der Laut eines Glöckchens an sein Ohr drang. Irritiert stand er auf und drehte sich in die Richtung, aus der er gekommen war. Was mochte das nun schon wieder sein? Am Horizont ließ sich mittlerweile schon ein dunkler Schatten erahnen. Ced blinzelte. Das konnte ja wohl nicht sein.

Es war der schwarze Hase, der den Pfad entlang gehoppelt kam. Instinktiv streckte der Junge seinen Daumen raus, was im Grunde ziemlich blöde war, immerhin redeten wir hier immer noch von einem Nagetier und nicht von einem Autofahrer, doch das Häschen hielt tatsächlich an. Ha! Endlich konnte Ced es sich von der Nähe ansehen, nachdem er dem Unglücksbringer ewig hinterhergerannt war. Wirklich deprimierend, dass sogar ein kleines beliebtes Haustier größer war als er selbst. Fast erwartete er, dass es ihn ansprach, doch das Häschen sah ihn nur stumm an, das rote Glöckchen um seinen Hals bimmelte ungeduldig. „Äh.. kann.. kann ich mit?“, fragte er unsicher, ob der Hase ihm überhaupt eine Antwort geben würde. Das eine Auge leuchtete smaragdgrün wie das der Grinsekatze – das andere jedoch hatte einen dunklen Blauton. Dem Jungen schauderte – der Hase.. war doch harmlos, oder? Schließlich nickte das schwarze Nagetier und neigte den Kopf. Zögerlich erklomm Cedric den Hasenrücken und fragte sich, wo er sich am besten festhalten konnte, ohne runterzufallen oder dem Hasen ein paar Haare auszureißen.

Als er einigermaßen sicher saß, sprach Ced das Häschen noch einmal an: „Okay.. kannst du mich vielleicht zum Märzhasen und zum Hutmacher bringen, geht das?“ Schrecklich, dass er das tatsächlich gerade vorschlug – dem Rat eines verrückten Katers folgen? Nicht gut. Doch hatte er eine Alternative? Nein. Zumindest fiel ihm keine ein. Der Hase drehte den Kopf zu ihm nach hinten – ob es verstand? Es schien, als würde es seufzen (sicherlich eine Einbildung), ehe es den Kopf wieder nach vorne drehte und wie von der Tarantel gestochen losspurtete. Cedric wäre fast von seiner Mitreisegelegenheit gefallen, hätte er sich nicht rechtzeitig in das schwarze Fell gekrallt. Der Weg wurde immer verworrener, doch sie gelangten an keine Kreuzung, ehe sie einen Wald erreichten.

 

Im »WegeWald«, wie ein Schild verriet, regnete es geradezu voller Abzweigungen. Alle Y-förmig mit den aussagekräftigen Beschrifungen ‚links‘ und ‚rechts‘. Und der Hase lief mal links und mal rechts und mal rechts und mal links. „Du.. du bist dir schon sicher, wo es langgeht, oder?“, erkundigte Cedric sich einmal zögerlich, allerdings erhielt der Junge keine Antwort. Da wünschte man sich glatt den Grinser wieder – dieser hatte zumindest auf ihn reagiert. Und links und rechts und links und rechts. Wie spät war es eigentlich mittlerweile? Ced seufzte, während ihm langsam die Augen zufielen.

Und links und rechts und rechts und links..

 

W-Was?“ Ced blinzelte. Das Häschen hatte abrupt angehalten und ihn danach unsanft abgeworfen. Der Junge lag nun also im nassen Gras unter einem Tisch, sofern er das ausmachen konnte. Sich am Kopf kratzend, stand er auf. War dies sein Ziel?

»Oh, juhu! Gray, wir haben Besuch, Zeit neuen Tee aufzugießen!«

Ced schlich aus der Deckung des Tisches um einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen.

»Seit wann freust du dich über meinen Besuch, Hutmacher?«

Ah gut, anscheinend war dies hier wirklich erstmal Endhaltestelle. Doch wer war die zweite Stimme, die da sprach?

»Paperlapapp, ob im Dienste der Roten Königin oder nicht, für eine Tasse Tee ist hier jeder willkommen, auch du, B-Rabbit!«

Verdammt, er war zu klein um überhaupt einen Überblick gewinnen zu können!

»Doch sag, was führt dich hierher? Wäre ungewöhnlich für dich, ohne einen triftigen Grund aufzutauchen.«

Ced hüpfte probeweise ein paar mal, um mehr zu erkennen, doch ohne Erfolg.

»Wie unglaublich scharfsinnig du doch bist. Ich hab unterwegs nen Knirps aufgegabelt, der zu dir wollte. Warte.. wo ist er hin..?«

Im nächsten Moment blickte Ced in ein Paar.. grün-blauer Augen, die – um dessen Tatsache nicht außer Acht zu lassen – jeweils so groß waren wie sein Kopf. Verdammt, wie konnte er nur wieder seine normale Größe erreichen? Das unterschiedliche Augenpaar gehörte zu einem Mädchen mit heller Haut und dunklen Haaren, aus denen ein paar schwarze, lange Hasenohren wuchsen. Sie trug ein schwarzes Kleid mit roten Stiefeln und rotem Mantel sowie ein Glöckchen um den Hals. Als wäre er ein kleines Spielzeug, packte sie ihn vorsichtig mit zwei Fingern und zog ihn hoch, nur um ihn dann mitten auf einem ziemlich langen, ziemlich vollen Tisch abzuliefern.

»Aber das ist ja Alice!«, rief der Hutmacher verzückt. »Ein wenig winzig geraten, aber das kriegen wir schon gerade gebogen!«

Ärgerlich drehte Cedric sich um (sah er wie ein verdammtes Mädchen aus?!) und blickte direkt in die Augen seines Vaters. Diese Erkenntnis beraubte ihn jeglichen Kommentars.

»Alice? Alice? Wo ist Alice, oh Alice, nein wie süß!« Die dazugehörige Stimme, gehörte zu Gray, der gerade eine Tasse Tee aus einer windschiefen Hütte holte und dabei vor lauter Aufregung das Meiste verschüttete. Ganz offensichtlich war sein Onkel der Märzhase, denn auch er hatte lange (in seinem Fall) helle Hasenohren, dazu mit passender Schürze – Gray eben.

Ich heiße nicht Alice!“, begehrte Cedric auf, doch noch ehe er ein weiteres Wort sagen konnte, nahm ihn der Hutmacher – Matze – und zog ihn hoch, wie vorher das Mädchen und noch vorherer: Cheshire. Der Junge verschränkte die Arme. „Lansgam hab ich genug davon, als Spielball zu enden. Mensch, Dad!“

Sein Vater kicherte. »Der Kleine hat zweifelsohne etwas gegen den Kopf bekommen. Aber hey, es erkennt seinen Papa! Gray, Gray, möchtest du die Mama sein? Und du Tara-« Er deutete mit seiner freien Hand auf das Mädchen. »Du bist die böse Stieftante!«

Tara! Natürlich, er wusste doch, dass auch sie ihm bekannt vorkam. Das Mädchen hatte sich mittlerweile auf einen der vielen, nicht zusammenpassenden Stühle gesetzt und die Beine übereinandergeschlagen. Bei Matze’s Worten riss sie empört den Mund auf, doch der verbot ihr mit einer Geste den Mund. Mürrisch zog sie eine alte Taschenuhr aus ihrer Rocktasche. »Na schön, ich bin gut in der Zeit.«

Cedric zappelte zwischen Matze’s Fingern, konnte sich jedoch nicht losreißen. „Hey, ignoriert mich nicht die ganze Zeit!“, schimpfte er schließlich missgelaunt.

»Oooh, was hast du denn mein Sohn?« Sehr witzig Matze, sehr witzig. »Nein sag, wie bist du nur so geschrumpft?«

Ced gab auf so wild umherzuzappeln – es half sowieso nichts. „Ich bin dem Häschen gefolgt. Der da.“, erwiderte er mürrisch und deutete dabei auf Tara, die empört nach Luft schnappte.

»Was willst du damit-?« Matze warf ihr einen Blick zu, der keine Widerrede duldete, woraufhin sie verstummte. Der Hutmacher wandte sich wieder Cedric zu.

»Nein Alice, du armes, kleines Ding. Na dann wollen wir dich mal wieder auf deine Originalgröße zurechtstutzen! Gray, die Kekse!« Erwartungsvoll drehte er sich zu seinem Cousin, doch es war nicht dessen Stimme, die Antwort gab.

»Ich hab Kekse, guck Papa, guck!« Cedric riss den Kopf herum, um von seiner schwebenden Position aus, den Ursprung der piepsigen Stimme auszumachen. Was er erblickte, war ein kleines Kind, dass über den Tisch krabbelte und dabei einiges an zerbrochenen Tassen zurückließ. Das Kind entpuppte sich als seine kleine Schwester Alessa, mit blonden langen Haaren, rötlichen Augen sowie dazu passenden Mauseohren. (Gut, der Anblick diverser Ohren überraschte Cedric längst nicht mehr).

»Haselmäuschen, was machst du denn schon auf? Haben wir dich aufgeweckt, haben wir das? Nunja, geben wir einfach dem Märzhäschen die Schuld, so wie immer.« Und er kicherte, als hätte er einen köstlichen Witz gerissen. Aus den Augenwinkeln sah er Tara, die so tat, als müsse sie brechen. Der Märzhase verdrehte ärgerlich die Augen, ehe er sich dazu anschickte, den Schaden, den seine Nichte hinterließ, zu bereinigen.

»Also Mäuschen, wo hast du denn die Kekse versteckt?« Also ob hier nicht genug Kekse herumstehen würden. »Links o-der rechts, du musst ra-ten!« Ein verschmitztes, unglaublich süßes Alessa-Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Matze griff ihr ans linke Ohr und zog dort einen Keks heraus.

»Ein Keks, ein Keks, hier haben wir ja einen, perfekt!« Und er verputzte ihn.

Cedric starrte ihn fassungslos an. „Sollte der mich nicht wachsen lassen?“

Der Hutmacher blinzelte. »Wachsen lassen? Wo denkst du hin? Der hier-« Er zog einen weiteren Keks aus Alessa’s Ohr. »Der lässt dich wachsen. Ist auch auf deine jetzige Größe angepasst. Fehlen nur noch Salz und Pfeffer!«

Salz und.. was?! Doch schon wurde gesalzert und gepfeffert. Matze stopfte den kleinen Keks gnadenlos in Cedrics Mund, welcher sich prompt daran verschluckte, was den Effekt jedoch nicht minderte. Der Junge wuchs noch während der Husterei an, wobei er allerdings eine ziemliche Sauerei veranstaltete. Mit seinen jetzt ausgewachsenen 1,83 Metern hatte er nämlich sämtlichen Tee verschüttet, Geschirr zerdeppert, Kekse vom Tisch gefegt und Marmeladenflecken fabriziert. Alessa fiel lachend auf ihn, als er seine Schwester von den Füßen riss. Somit war der Marmeladenfleckenanteil bei den beiden enorm groß, während der Märzhase sich rechtzeitig unter den Tisch geduckt hatte. Matze schubste Cedric runter vom Tisch, während er Alessa in die Höhe hob und danach sanft auf den Boden absetzte. »Na mein Mäuschen? Ist dir auch nichts passiert?«

Cedric rieb sich am Schädel. Typisch – da sieht man mal wieder wer das Lieblingskind in der »Familie« ist. Doch das war jetzt nicht Thema.

»Nein, Alice, wie du aussiehst! Ganz voller Marmelade!« Matze war noch mit seinem Töchterlein beschäftigt – stattdessen fummelte jetzt Gray an ihm rum und versuchte die Flecken zu entfernen, wodurch er das ganze eigentlich nur noch schlimmer machte. »Gray!«

Tara, die im Gegensatz zu den anderen nichts abbekommen hatte, bekam einen regelrechten Lachanfall, während sie grinsend ein wenig verschüttete Marmelade naschte. Ihre langen Ohren wippten dabei fröhlich im Wind. »Sieht gut aus.«, kommentierte sie, »Macht dich auch gleich viel farbenfroher.« Cedric schenkte ihr einen finsteren Blick. Matze auch.

»Hmpf, dummer Hase. So kann er ja wohl kaum bleiben! Was meinst du Alice, rot, grün, blau?« Er schnippte bei jeder Farbe einmal mit den Fingern und Cedrics Klamotten änderten sich entsprechend seiner Worte.

»Ich hab auch Ausgefalleneres zu bieten. Schwarz-weiß gestreift, pink-lila kariert, gelb mit orangenen Sternen? Ich schneider was gefällt!« Cedric starrte entsetzt an sich runter. »Oh, das Letzte ist aber hübsch geworden Matze! Ist das neu?«, schwärmte der Märzhase, worüber der Junge nur den Kopf schütteln konnte. Tara war mittlerweile so taktvoll und schwieg (auch wenn es ihr offensichtlich schwer fiel).

»Ja, ist es, würde dir allerdings nicht passen. Und unserer Alice hier steht es auch nicht. Da würde ich dann doch etwas Traditionelles empfehlen in blau, passend zur Augenfarbe, oder was meinst du mein Mäuschen?« Matze schlawenzelte um ihn drumherum, um sich ein genaues Abbild zu machen, während Alessa zustimmend Beifall klatschte, ehe sie sich die nächsten Kekse krallte.

»Hm, wenn er der Roten Königin einen Besuch abstatten möchte, wäre er mit rot sicherlich auch ganz gut beraten.«, kommentierte der schwarze Hase mit ironischem Lächeln und warf eine Blick auf die Uhr, ehe er sich schulterzuckend ein noch ganzes Glas voll Süßigkeiten schnappte. »Da hat sie nicht ganz unrecht..«, stimmte Matze seufzend zu, ehe er sich auf den nächstbesten Sessel fallen ließ.

Cedric wurde es langsam zu bunt. „Okay, macht mal langsam!“, begehrte der Junge auf, „Erstens. Mein Name ist nicht Alice! Zweitens. Eine grinsende Katze hat mir den Rat gegeben, zum Märzhasen und zum Hutmacher zu gehen – sprich zu euch Hanseln hier – aber warum? Inwiefern könnt ihr mir schon helfen? Drittens. Wer zum Teufel nochmal ist die Rote Königin und was ist mit ihr, dass ihr sie alle so hasst?“ Mit verschränkten Armen beendete er seinen kurzen Aufsatz und funkelte die Personen der Reihe nach an.

Ihre Reaktionen waren ganz unterschiedlich.

Die Schlafmaus aß weiterhin Kekse. B-Rabbit versuchte wie zuvor ihre Gefühle nicht allzu offen zu zeigen, allerdings konnte sie nicht aufhören wissend zu lächeln. Der Märzhase brabbelte irgendetwas Unsinniges, was beispielsweise die Worte »Ach du Armer!« oder »Oh nein, Oh nein, wo sollen wir nur anfangen?« enthielt. Der Hutmacher lachte sich kaputt.

Als er damit fertig war, brüllte er lauthals: »Geschichtsstunde!«, schubste Cedric auf den Stuhl gegenüber von ihm und schenkte seinem Sohn eine Tasse Tee ein. Was jedoch nicht viel half, denn das Geschirr war zerbrochen. Cedric hielt die Tasse glücklicherweise rechtzeitig von sich weg, um sich nicht erneut anzukleckern, wenn er schonmal neue Klamotten anhatte (und er war heilfroh, dass der Hutmacher ihn kein Kleid geschneidert hatte!).

»Also gut, Alice.« Man begann langsam Früchte an Punkt Eins zu erkennen. »Zu Zweitens kann ich nicht wirklich was sagen, denn woher soll ich wissen, was im Kopf einer durchgeknallten, alten Katze vorgeht?« Hilfreich, danke. »Und um dir zu helfen müssten wir auch wissen wobei, aber immerhin hast du wieder deine Normalgröße erreicht, findest du nicht, das wäre genug für’s Erste?« Da… na gut da war was dran. Immerhin etwas. Der Hutmacher zündete sich eine Pfeife an, ehe er weitersprach. »Drittens spricht allerdings ganz für deinen Namen als Alice, denn wer sonst würde hiervon nichts wissen?« Was für eine intelligente Theorie. »Also hör zu.

Es war einmal vor langer Zeit, da wurde dieses wunderliche Land von einer weisen Königin regiert, die vom Volk geliebt wie geschätzt wurde. Auch ich kann nicht leugnen, wie sehr mich ihre Art anzog.« Der Hutmacher geriet ins Schwärmen, sah Alessa kurz verträumt an und stahl dem Märzhasen dann den Keks, den dieser in der Hand hielt. Schließlich fuhr er fort: »Jedenfalls war alles soweit perfekt, ehe sie sich verliebte, ein Kind in die Welt setzte und schließlich in Depressionen verfiel.« Gelangweilt zog Matze der Haselmaus einen Lolli aus den Haaren. Wie, das war’s? „Weshalb verfiel eure Königin in Depressionen?“, erkundigte Cedric sich, während er Vater & Tochter still beobachtete. »Naja, ihr Liebesleben endete unglücklich und ihre eigen Fleisch und Blut entpuppte sich als wahre Rabentochter. Danach stürzte sie sich jedenfalls in allerlei Affären und wurde immer unglücklicher. Somit war es für ihr Kind nicht mehr sonderlich sch

wer ihr den Thron streitig zu machen. Seitdem macht sie uns das Leben zur Hölle, weil sie es nicht ertragen kann, dass wir ihre verhasste Mutter so sehr liebten. Und sie nicht. Deswegen fährt sie eher auf Regieren mit Furcht ab.« Er knabberte frustriert an seinem Lolli.

Cedric seufzte. „Klingt ja nach einer sehr umgänglichen Person.. aber was hat »Alice« mit der ganzen Sache zu tun?“ Fragend blickte er in die Gesichter der anderen und zu seiner Überraschung antwortete ihm die kleine Alessa. »Weil Alice lieb ist!«

Erstaunt sah der Junge sie an, wobei er zum ersten mal, seit er hier gelandet war, realisierte: Dieses Kind war seine kleine Schwester. Der Hutmacher war sein Vater. Der Märzhase sein Onkel. Und keiner von ihnen erkannte ihn, als das was er in Wirklichkeit war, für sie stand nur eines fest: »Alice«.

»Dideldum, Dideldei, ist da noch ein Platzerl frei?« Fünf Köpfe (mit dunklen Ohren, hellen Ohren, Mauseohren, Hut sowie blank) drehten sich zu der Stimme um. Für Cedric war der Neuankömmling nur ein weiterer Schlag ins Gesicht, denn sein Zwillingsbruder Simon taumelte um die Ecke und fiel ungalant auf den nächstbesten Hocker, von dem er fast zu stürzen drohte. Gray riss ihm ärgerlich die Bierflasche aus der Hand. (Cedric hätte Alkohol in dieser Umgebung ehrlich gesagt als letztes vermutet).

»Simon! Wie oft hab ich dir schon gesagt, du sollst mit der Sauferei aufhören! Hier, nimm ein Tässchen Tee.« Der Märzhase versuchte ihm die Flasche zu entziehen, doch Simon hielt sie fest umklammert, als wäre es das Letzte, was er noch besaß. »Tirili, irgendwie, Tirilo, kenn ich Sie von irgendwo!«, gluckste er und sah irritiert in die Tischrunde, ehe sein Blick auf ihm hängen blieb.

Was.. Was ist mit ihm?“, ekundigte Cedric sich bestürzt, denn er hatte seinen Zwilling selten in einem solch miserablen Zustand gesehen.

»Naja, das ist auch so eine Geschichte. Also, unsere jetzige zauberhafte Regentin hat ein Spiel mit seinem Bruder getrieben, ihn zum Herzkönig ernannt und schließlich ermordet.«, erklärte Matze und rührte Zucker unter seinen Tee. Cedric starrte ihn an. »So heißt es zumindest. Die genauen Umstände sind selbstverständlich unter dem Tisch gehalten worden, was die Gerüchte umso mehr angspornt hat. Er hier-« Der Hutmacher deutete mit dem Löffel auf das klägliche Etwas vor ihnen, »hat es jedenfalls nie ganz verwunden, wie man sieht.«

Gray hatte es endlich geschafft seinem Neffen den Alkohol zu entreißen. »Hmpf, das verdirbt einem ja die Lust auf Tee!«, schimpfte er naserümpfend und zog Simon von Alessa weg. »Was kam zuerst, das Tick oder das Tack?«

Tara sprang nach diesen unsinnigen Worten wie von der Tarantel gestochen auf. »Gott, wie viel Zeit ich hier schon verplempert hab!«, meinte sie säuerlich und stopfte ihre Eieruhr zurück in die Tasche.

»Oh, du gehst? Wie schade. Und nicht eine Tasse Tee hast du gekostet!« Matze klang beinahe ehrlich entäuscht.

»Welch ein Versäumnis. Tut mir leid, unser Lieblingsorakel wartet auf einen Bericht.«, erwiderte sie unwirsch. Ced stand ebenfalls auf. „Kann ich mit?“ Der Junge war mit dieser Teegesellschaft soweit fertig. Wirklich schlauer war er dabei eh nicht geworden, aber zumindest hatte er seine Normalgröße wieder erlangt. Tara musterte ihn kurz von oben bis unten, als ihm schrecklicherweise bewusst wurde, dass er noch in Matze’s neuerster Kreation steckte: gelb mit orangenen Sternen. Hilfesuchend sah er sich zu seinem Vater um. »Schade. Mir gefiel der Entwurf eigentlich. Zu ausgefallen? Na schön, wie wäre es hiermit?«

Ced atmete erleichtert aus. Besser! Die Farben waren in dunklen Blautönen sowie schwarz gehalten. Die Schneiderei war zugegebenermaßen eine Meisterleistung, was Detailverliebtheit und Handwerk betraf. Im Grunde zwar ein wenig altmodisch, wie man es von britischen Einwohnern des 20. Jahrhunderts her kannte, dennoch wirkte das ganze nicht staubig, sondern vielmehr traditionell. Selbst Accessoires wie Hut oder Handschuhe fehlten nicht – nur den Gehstock lehnte Cedric dankend ab.

»Können wir?«, hakte das Mädchen mit der Iris Heterochromie ungeduldig nach. Ced nickte.

»Du packst das schon.« Irritiert sah der Junge sich noch einmal um. Matze schenkte ihm ein gleichzeitig bedauerliches wie aufmunterndes Lächeln. Zum ersten mal klang er wirklich nach dem Mann, der sein Vater war und nicht wie irgendein verrückter Hutmacher. Die Worte jedoch hatten rein gar nichts Tröstliches an sich, stattdessen verunsicherten sie Alice und er stellte sich die Frage, in was er noch alles reingeraten würde, bis er den Weg zurück nach Hause fand.

Falls er ihn fand.

 

Die Teegesellschaft verschwand hinter ihnen im Nebel, die letzten Worte verklangen. Tara schlug einen schnellen Gang an, dem der Blonde nur schwer folgen konnte. In seinem Kopf drehte sich alles, es war, als würde ein Gedanke zehn weitere Fragen aufwerfen. Daher war er froh, die lärmende Meute jetzt hinter sich gelassen zu haben und stattdessen mit dem eher schweigsamen Hasen gemeinsamen Weges zu gehen.

B-Rabbit“, merkte der Junge plötzlich auf, „Wofür steht das eigentilch?“ Tara, die vor ihm lief, drehte sich abrupt zu ihm um, mit einem Lächeln, das für einen Hasen ziemlich mordlustig aussah. »Bloodstained Black Rabbit. Blutbefleckter schwarzer Hase.« Ohne noch etwas zu ergänzen, setzte sie ihren strammen Gang fort. Cedric rannte ihr hinterher, bis er gleichauf mit dem Mädchen war.

Wie hast du dir denn den Namen eingefangen?“, erkundigte er sich mit einer Mischung aus Bewunderung und Entsetzen. »Wie? Erwartest du jetzt, dass ich dir meine ganze Lebensgeschichte erzähle?« Ein leises Lachen wich aus ihrem Mund, doch der Schmerz in ihren Augen war unverkennbar. »Okay, so viel steckt eigentlich nicht dahinter, von daher bitte:
Ich hatte eine.. leidenschaftliche Beziehung mit dem Ehemann unserer geliebten Prinzessin. Hat ihr natürlich nicht gepasst und da der Tod ihr als Bestrafung zu Milde erschien, ernannte sie mich kurzerhand zum neuen Henkersmeister und so durfte ich als Debüt meinen Geliebten enthaupten. Seitdem erledige ich für sie all die schmutzigen Arbeiten und gelte bei meinen Landsleuten gemeinhin als Verräterin. Er sah dir übrigens ähnlich.« Cedric sah sie verständnislos an. „Was?“

»Der Herzkönig meine ich.«

Der Herzkönig also. Ermordeter Mann der allseits geliebten Königin. Ced war das Thema unangenehm, es fühlte sich schwer an, verworren, unendlich tief wie Ketten, die einen an den Boden fesselten, die man nicht auseinanderbekam und einen in die Düsternis zogen. Doch dem Gefängnis konnte man entfliehen, solange man schnell genug war, um wegzurennen. Daher fragte er weiter.

Der Hutmacher.. er schien dich nicht als Verräterin zu betrachten, immerhin lud er dich an seinen Tisch ein.“

»Ja, der hat ja auch nen Knall. Nicht aufgefallen?«

Mh. Wer oder was ist das Orakel?“

»Ein Wer. Siehst du dann schon.«

Ist es weit dahin?“

»Du wirst sofort merken, wenn wir da sind.«

Weshalb bist du auf den Weg zu ihm.. ihr.. wen auch immer?“

»Du stellst ganz schön viele Fragen.«

Ich- ja… mag sein.“

»Wird unserem Prinzesschen nicht gefallen.«

Warum nicht?“

Schweigen.

»Ich muss eine Botschaft überbringen. Hasen sind flink.«

Was?“

»Die Antwort auf deine vorherige Frage.«

Achso.“

»Oh man.«

Sagmal, wenn du für die Rote Königin arbeitest, dann gehört das Orakel auch zu ihr?“

»Gute Frage.«

Danke.“

»Das sollte nicht als Kompliment gemeint sein.«

Oh.“

»Er ist ein Händler und daher mehr oder weniger unabhängig.«

Und eure Königin duldet das?“

»Sie duldet es, da sie selbst Handel von ihm bezieht.«

Mit was wird denn gehandelt?“

»Mit Wissen und Opium. Hie und da auch mit weiteren Gefälligkeiten.«

Achso?“

»Ja.«

Hm.“

»Wir sind da.«

Was?“

»Wir sind da.«

Cedric sah auf. Tatsächlich.

Vor ihnen im Nebel lag ein recht eigentümliches Gebäude in Form eines… Pilzes. Für ein Haus war es ziemlich klein, für einen Pilz jedoch hatte es eine ganz ordentliche Größe. Um durch die Tür zu kommen, musste Cedric sich bücken, alles in allem maß der Champignon samt wolkig geformter Haube keine zweieinhalb Meter. Und das sollte der Unterschlupf eines einflussreichen Händlers sein?

Skeptisch trat der Junge hinter Tara ein. Das Erste was ihm auffiel, war ein übler Rauchgeruch, der von einem noch übleren Parfümgeruch übertüncht wurde. Diese Mischung bereitete Cedric einen Hustreiz, den er aus Höflichkeit zu unterdrücken versuchte. Tränen schossen ihm in die Augen und es dauerte eine Weile, bis er wieder soweit bei Verstand war, um etwas erkennen.

Pierre.

Das Erste was ihm ins Auge stach war Pierre, der sich in seidigen Tüchern niedergelassen hatte, umgeben von einigen äußerst hübschen, jungen Damen.

Moment.. war dies das Orakel, der Händler, der mit Adel wie Fußvolk hausierte? Pierre? Hatte er da was nicht mitbekommen? Verwirrt sah er zu seiner Begleitung, die gerade das Glöckchen um ihren Hals abband.

»Also ‘ast du bekommen, was isch wollte – und einen Gast gleisch dazu mitgebrascht? Alise, wenn misch nischt alles täuscht?«

Cedric runzelte skeptisch die Stirn. Pierre’s Akzent war hier stärker als er es gewohnt war. Er bewegte sich ein wenig auf Tara zu, um ihr das Glöckchen abzunehmen. Dabei verrutschten einige der Seidentücher und anstatt zweier Beine, kam ein langer, lilablassblau-bepunkteter Raupenkörper zum Vorschein. Wäre ja auch verwunderlich gewesen, wenn der Franzose als annähernd normaler Mensch durchgehen würde. Pierre entgegnete seinen (mit Sicherheit ein wenig.. angewiderten Blick) und zog Cedric gegen seinen Willen zu sich auf sein weiches Lager.

»Schön‘eit liegt im Auge des Betrachters. So kann auch eine ‘ässlische Raupe zu einem wunderschönen Schmetterling ‘eranwachsen. Verstehst du misch?« Cedric starrte ihn an. Äh, was?

»Wie dem auch sei. Alise! Isch bin froh, disch meinen Gast nennen zu dürfen!« Auch der Name, der ihm nicht gehörte, muste unter dem Akzent des Franzosen leiden. »Es werden große Stücke auf disch ge’alten, weißt du das? Man erzä’lt sisch bereits Geschischten davon, dass Alice ins Wunderland zurückgekehrt sei um die ‘erzkönigin vom Thron zu stoßen!« Er nahm sich eine Erdbeere, die eine der hübschen Damen bereitwillig hinhielt. Cedric war über diese Neuigkeit bestürzt. Wer erzählt denn sowas?

Da.. da liegt ein Irrtum vor. Ich bin gewiss nicht gekommen, um irgendjemandens Platz einzunehmen, erst recht nicht den einer Königin! Wenn man es genau nimmt.. habe ich mich hierher verlaufen.. und suche den Weg zurück.“, stammelte er und fragte sich im selben Moment, wie er je im Leben in eine solch missliche Lage kommen konnte.

»Das ischt typisch für disch, Alise!« Die Raupe (…) schien nahezu begeistert. »Allerdings gibt esch da ein kleines Problem. Wir können dir nischt ‘elfen!«

Cedric war nahezu empört. „Weshalb nicht?“, versuchte er höflich die Konversation fortzuführen, „Ich hörte, Ihr wisst recht viel? Ist nicht selbst die Königin bei Euch ein gern gesehener Gast? Also-,“ Er wurde jäh von dem Franzosen unterbrochen.

»Die Königin.«, begann er langsam und mit einer Stimmlage, die keine Widerrede duldete. »War nie und wird nie einen ihrer adeligen Füßlein ‘ier’er bewegen. Dafür ‘aben wir andere Leute.« Dabei sah er Tara fest in die Augen. Diese hatte seit der Übergabe kein Wort mehr gesagt. Stattdessen stand sie verdrossen und mit verschränkten Armen in einer Ecke. »Setz disch doch, Madmoiselle ‘asenfuß.«, bot der Franzose ihr lächelnd an.

»Nein danke, ich stehe ganz gut.«, entgegnete sie mürrisch und warf einen abfälligen Blick zu den feinen Damen. Pierre zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder Cedric zu.

»Lass misch fortfahren. Isch kann dir nischt ‘elfen, da mein Wissen an die Gesetze des Wunderlandes gebunden sind. Nur die Königin könnte disch vielleischt noch begünstigen, aber – MonDieu! – ‘alte disch besser von ihr fern, am Ende ‘eißt es nur-«

»Ab mit deinem Kopf! Hicks!« Drei Köpfe drehten sich zu dem Störenfried um, der eine blonde, betrunkene Dame in einem weiß-blauen Bunny-Outfit sowie einer übergroßen, goldenen Taschenuhr bezeichnete. Es war Jeanette. Ced kannte sie im Grunde nur flüchtig, doch ihr stets unverblümtes Auftreten prägte sich unwiderruflich ein.

»Oui, Jeanette, du bischt wach? Zur Erklärung.«, wandte er sich wieder an Cedric, »Sie ‘atte lange Zeit den Job, den unser freundlisches Hässchen jetzt ausführt.. allerdings war sie meistens zu spät dran oder brachte die Dinge durscheinander.. einfach schusselisch..«

Cedric runzelte die Stirn. „Was du sagst, ergibt für mich keinen Sinn. Diejenigen, die ich hier getroffen habe – inklusive dir – schienen Alice ja zu erwarten. Wie jemanden.. auf den sie ihre ganze Hoffnung bauen können. Und worauf solltet ihr sonst hoffen, als den Sturz einer Königin, der ihr offensichtlich nicht besonders wohlgesonnen seid? Warum also, soll ich mich von ihr fernhalten?« Unbewusst begann er den Franzosen zu duzen, nun, immerhin handelte es sich dabei nichtsdestotrotz um Pierre.

Der lächelte.

»Langsam glaube isch, scheinst du das Spiel zu begreifen.«

Cedric sah ihn verwirrt an. Spiel? Spiel? Galt es in einem Spiel mitzuspielen, um hier herauszukommen?

Doch klang es verdammt nochmal nach einem Machtspiel - und die waren bekanntermaßen gefährlich und weckten nicht unbedingt sein Interesse. Der Junge versuchte sich seine Anspannung trotz allem nicht zu sehr anmerken zu lassen, allerdings war er ein schlechter Schauspieler – wieder ein Spiel, in dem er versagte.

Ich nehme an, in diesem Spiel, muss ich die Rolle von Alice annehmen?“

»Du ‘ast sie doch schon längst angenommen.«, erklärte das Orakel. Wie orakelhaft.

Cedric knackste mit den Fingern. Der Gedanke gefiel ihm nicht.

Na schön, also? Was muss ich wissen?“, knurrte er beinahe.

»Mon Dieu! Glaubst du etwa, isch kann dir mein ganzes Wissen weitergeben? Ah! Mal ganz davon abgese‘en, dass isch dann pleite wäre, würde unsere geliebte Königin misch Köpfen lassen, sozusagen.. Steuer’interzie’ung!«

Steuerhinterziehung? Hatte er gerade richtig gehört? Nun, der Macht einer Regierung waren die Bewohner dieses wunderlichen Landes offenbar genauso ausgeliefert, wie bei sich zu Hause.

Ja.. aber.. du hast mir bisher doch schon einiges verraten, also-,“

Pierre unterbrach ihn. »Welch bodenlose Unterstellung! Was bitte ‘abe isch dir denn Wertvolles verraten?« Seine violetten Augen, schienen Cedric vollkommen zu durchdringen, weshalb er schnell woanders hinsah.

Nun, also..“, begann er unbehaglich. „Ich weiß jetzt zum Beispiel, dass eure Regentin nie hier war.“

»Natürlisch nischt, sie ist eine Königin und es ist weit’in bekannt, wer ihre getreuen Gefolgsleute sind, die sie für etwaig niedrigere Aufgaben einsetzt.« Bloodstained Black Rabbit. Sein Blick wanderte kurz zu Tara, ehe er erneut argumentierte.

Und dass nur die Königin mir nach Hause helfen kann?“

»Sie ist die Mascht’aberin, wer sonst, wenn nischt sie, sollte dir ‘elfen können? Und merke dir: nur, weil jemand etwas kann, ‘eißt nischt, dass er es auch tut.«

Aber das jetzt-; und.. moment..“ Der Händler hatte Recht. Hatten sie sich tatsächlich nur über Belanglosigkeiten ausgetauscht? Auch das zuletzt genannte war keine Information gewesen, sondern nur eine allgemein bekannte Tatsache, die er sich vor Augen halten sollte.

»Ah, isch se’e, wir sind ‘ier fertisch.« Cedric wollte zu einem Protest ansetzen, denn es klang ganz so, als wollte der Franzose ihn fortschicken. Doch noch bevor ein Laut über seine Lippen kam, zog Pierre ihn fest an sich heran. Erschrocken versuchte der Junge sich aus der gnadenlosen Umklammerung zu befreien, als er die leisen Worte des Franzosen ausmachte. »Noch ein letzter ‘inweis: An deiner Stelle würde ich nicht so bereitwillig in die Arme der Roten Königin laufen, auch, wenn sie dir im Moment als ein ‘offnungsschimmer erscheint. Such die Weiße Königin! Vergiss nie, dass du der ‘offnungsträger des Volkes bist! Alles was du ‘ier tust, ‘at Auswirkungen auf unser Land, ob groß, ob klein – ‘alte dir dies bei deinen Tätigkeiten vor Augen!« Er hatte unglaublich schnell gesprochen, wenngleich sein französischer Akzent diesmal nur halb so stark gesprochen war. Was mochte das nun schon wieder bedeuten? »Oh und nimm dies bitte als kleine Aufwartung an.« Die Raupe drückte ihm ein kleines Fläschchen in die Hand. Noch ehe Ced sich weitere Gedanken machen konnte, fügte Pierre laut hinzu: »Nun geh – Alice – und gib gut auf disch Acht. Tara, dir wäre isch sehr verbunden, wenn du ein wenig.. auf ihn aufpassen möschtest. Wer weiß, was er sonst für Fehler allein durch seine unglaublische Unwissen‘eit begeht! Au Revoir.«

Aha. Jetzt brauchte er also auch schon einen Babysitter. Vielen Dank für Ihr entgegengebrachtes Vertrauen. Mit diesen Gedanken schubste Tara ihn heraus aus dem Pilzhaus und Cedric konnte endlich wieder frei atmen.

In diesem Moment schwor er sich, nie mit dem Rauchen anzufangen.

 

»Na, wurdest du erhellt?« Tara schlug ihren typischen strammen Gang an, den Cedric schon von ihr gewohnt war. Für ihn war es ein Rätsel, wie sie sich so schnell so sicher einen Weg durch diese Nebelsuppe bahnen konnte. Da ihm das Gespräch mit Pierre noch im Kopf rumspukte, erwiderte er mit einiger Verzögerung: „Wie… was? Erhellt?“ Irritiert sah er sie an.

»Hm. Sieht ganz offensichtlich nicht danach aus als hätte das mächtige Orakel dir Weisheiten mit auf den Weg gegeben.«, kommentierte der schwarze Hase seine Verwirrtheit. Cedric blieb stehen. Seufzend setzte er sich auf einen der Pilze, die auf diesem Pfad aus dem Boden sprossen und sich perfekt als Sitzgelegenheit anboten. »Was is?«, erkundigte sich Tara, die Stirn in Falten gelegt.

Ich versuche, die Spielregeln zu verstehen.“, erklärte er und begann, mit seinem Finger ein Quadrat in die Erde zu zeichnen.

»Und das lernst du, indem du im Dreck kniest?« Der Junge ignorierte sie. Such die Weiße Königin! Aber wo sollte er sie suchen? Im Gegensatz zu den Wunderlandbewohnern, kannte er sich hier kein Stück aus. Sagte der Kater nicht sowieso… Wohin mag die Weiße Königin nur verschwunden sein? Tolle Königin ist das. Wirklich gut erschien sie Cedric nicht, wenn sie sich so leicht vom Thron vertrieben ließ. Ist ihr Volk ihr denn so egal? Seitdem macht sie uns das Leben zur Hölle, weil sie es nicht ertragen kann, dass wir ihre verhasste Mutter so sehr liebten. Nun, zugegeben, er kannte sie ja nicht. Vielleicht war sie ja eine gute Regentin? Gewesen? Ihrem Kind wollte er allerdings ehrlich gesagt tatsächlich nicht so schnell begegnen. Falls die Gerüchte, die man sich erzählt, stimmten… sowieso, weshalb sollte er sich darum kümmern? Weil Alice lieb ist! Vergiss nie, dass du der ‘offnungsträger des Volkes bist! Alice ist die Person, auf die alle Hoffnungen ruhen. Aber warum bin ich Alice?

Cedric sah Tara in ihre unterschiedlichen Augen. Sie ist zu B-Rabbit geworden, weil die Rote Königin es so wollte. Aber was ist mit den anderen? Ist auch hier die Herzkönigin oder vielleicht gar ihre Mutter für deren Schicksal verantwortlich? Doch was ist mit mir? Konnte einer der Adligen mich zu einer Figur machen, ohne dass ich ihnen je begegnet bin? Oder unterliegt die Rolle namens Alice anderen Gesetzen? Ich werde einfach nicht schlau draus…

Cedric stand auf und wollte gerade zu Wort ansetzen, um das Mädchen ein wenig auszufragen, als eines ihrer langen Hasenohren zuckte. Abrupt drehte sie sich um.

»Scheiße.«

Was ist-,“
»Hau ab!«, schrie sie und schubste ihn unsanft ins grüne Gestrüpp. »Er ist auf dich aus!« Bevor Ced wusste, wie ihm überhaupt geschah, lag er halb im Dreck, halb in Pflanzen verheddert, abseits des Weges. Gebrüll einem Donner gleich, erklang, doch noch war der dazugehörige Körper, welches den Laut verursachte, durch die dicke Nebelsuppe nicht auszumachen.

Tara stand mit grimmigen Gesicht inmitten des Pfades. Der Wind strich ihr durch Mantel, Haare und Ohren, in der linken Hand hielt sie eine mannshohe schwarze Sense, bereit anzugreifen. Das Gebrüll erklang abermals, ein Aufschrei des Hasses , welches die Stille durchschlug.

Was tust du da?“, brüllte er ihr entgegen und versuchte sich fieberhaft aus den Sträuchern zu befreien. Noch ehe er sich gänzlich losgerissen hatte, kam es in Sichtweite.

Ein Drache.

Ach du.. Cedric erstarrte inmitten seiner Bewegung. Der Drache war ein gewaltiges, todbringendes Ungetüm. Die Schuppen schwarz getränkt, von der Schnauze bis zu seiner stacheligen Schwanzspitze. Die gelben Augen funkelten zornig. Die dunklen Flügel zu ihrer vollen Spannweite ausgebreitet und die scharfen Klauen gefährlich erhoben. Als die Riesenechse auf dem Boden aufsetzte, gab es einen gewaltigen Rumms, auf das die Erde erzitterte. Tara akzeptierte dieses Erschienungsbild, selbst als der Drache das mit spitzen Zähnen benetzte Maul weit öffnete und sie anbrüllte.

»Stinkender Drachenatem. Immer wieder eine Freude dich zu sehen, Jabberwocky.«, begrüßte B-Rabbit ihr Gegenüber gelassen. Wieso provozierst du ihn auch noch?, dachte sich Ced in seinem Versteck nur und biss sich auf die Unterlippe, unfähig jeglicher Handlung. Für ihn glich es einem Wunder, dass Tara noch vor ihm stand und nicht schon längst im Magen des Biestes vor sich hin gärte.

»Wo ist Alice?«, knurrte der Drache angriffslustig und schabte mit seiner Klaue die Erde auf. Die Stimme war tief und grollend, eine Stimme, die keine Widerrede duldete. Ced rutschte unwillkürlich etwas weiter in die dornigen Sträucher hinein.

»Ich weiß nicht. Siehst du sie hier irgendwo?«, antwortete der schwarze Hase und setzte ein erstauntes Gesicht auf.

»Mach dich nicht über mich lustig, kleines Mädchen, oder du landest in meinem Magen als kleine Mahlzeit zwischendurch.«, drohte das Monstrum fauchend.

»Oh, das würde deiner Herrin, unserer allseits geliebten Königin, aber gar nicht gefallen. Wer soll denn sonst all die Drecksarbeit erledigen?«

Ein weiteres Grollen schallte durch die Ebene. Nach einer Weile realisierte Cedric, dass der Drache lachte.

»Ohohoho. Schwaches Argument. Die Königin ist nicht besonderes zufrieden mit dir. Du vernachlässigst deine Pflichten. Am besten ich bringe dich gleich zu ihr, wenn ich schon Alice nicht haben kann.« Ohne Vorwarnung schnappte er nach dem Mädchen, welche nur noch mit Mühe ausweichen konnte.

»Mein nächster Auftrag führt sowieso zu ihr und ich lege keinen Wert auf Extra-Begleitung.«, erwiderte sie fest, doch man konnte ihr, die mittlerweile aufkommende Nervosität deutlich ansehen.

»Geht doch viel schneller mit mir.« Wäre es kein derartiges Biest, dass da sprach, hätte man seine Stimme in diesem Moment vielleicht sogar als charmant bezeichnen können.

»H-Hasen bleiben besser auf dem Boden!«, quiekte Tara erschrocken und verwandelte sich in ein schwarzes Nagetier zurück. Im Zickzack versuchte sie der Riesenechse zu entkommen, welche sich allerdings einen Spaß daraus machte, ihr jeweils mit Schwanz, Flügel oder sonstigen Körperteilen den Weg zu versperren. Irgendwann gelang es dem Häschen durch ein Schlupfloch zu verschwinden. Der Drache lachte weiterhin grollend, ehe er sich vom Boden abstieß und davonflog.

 

Cedric wartete eine gefühlte Ewigkeit, bis er es überhaupt wagte, wieder normal zu atmen. Der Junge schalt sich einen Feigling, weil er sich beim Anblick des Ungetüms versteckt hatte, noch schlimmer, Tara mit ihm allein gelassen hatte. Wütend riss Ced an den Pflanzen und schnitt sich dabei an allerlei Dornen, ehe die Sträucher ihn endlich frei ließen.

Tara? Tara, bist du noch da?“, rief er entlang des Wegens, doch niemand antwortete. Seufzend überlegte er sich, was als nächstes zu tun war. Doch noch ehe er einen klaren Gedanken fassen konnte, rutschte ihm das Herz in die Hose, als die Stille erneut durchbrochen wurde.

»Ai, Alice! Was machstn du hier so einsam und allein? Wo steckt deine Begleiterin? Vergrault?« Cedric drehte sich langsam um und blickte in sein Spiegelbild – Simon.

»Du bist ganz schön blass um die Nase, weißt du das?«, kommentierte sein Bruder besorgt. »Alles okay?«

Ced nickte bloß. Der Schreck steckte ihm noch tief im Mark, mehr als er zugeben wollte. Wie viel Zeit mochte wohl vergangen sein, seit er in diesem wunderlichen Land angekommen war? Dadurch, dass sich der Nebel noch nicht gelichtet hatte, war es schwer, die Tageszeit zu bestimmen.

Wohin bist du unterwegs?“, erkundigte Cedric sich bei seinem Bruder, welcher ihm ein wenig unsicher gegenübertrat. Für Ced ein neues Ereignis, denn normalerweise war es schwer, seinen Zwilling vom Reden abzuhalten beziehungsweise anderweitig aus der Reihe zu bringen.

»Oh, also, gerade war ich bei Pierre um zu gucken, ob der was für mich übrig hat..« Simon machte eine Bewegung mit seinen Fingern, die Ced als Trinkgeste verstand, »Hatte er leider nicht.. deswegen wollte ich sehen, wie’s Humpy Dumpty so geht.«

Humpty.. Dumpty?“, fragte Cedric verwundert nach, „Wer ist das denn?“

»Kennst du nich? Ich stell ihn dir vor, komm mit!« Noch ehe er protestieren konnte, zog Simon ihn weiter. Bald schon kam eine relativ kurze, halblange Mauer in Sichtweite. Vor dieser Mauer stand ein sechseckiger Tisch, an dem bereits ein Ei und eine Katze Platz genommen hatten.

Die Katze grinste ihn an. »Alice! Schön dich mal wieder zu sehen, aber ich muss sagen – du bist noch ganz schön grün hinter den Ohren.«

Cedric runzelte die Stirn und griff sich dabei unwillkürlich an die Ohren, wobei ein paar lose Blätter zu Boden fielen. Erst jetzt viel dem Jungen auf, dass er von Kopf bis Fuß voll von Pflanzenüberresten war, zusätzlich zu den kleinen Schnittwunden, die ihm die Dornen verpasst hatten.

Die Freude ist ganz.. auf meiner Seite.“, versuchte er möglichst würdevoll zu erwidern. Simon kicherte.

»Nun, Cheshire scheinst du ja schon zu kennen.. und das hier ist Humpty-,« Das Ei unterbrach ihn, indem es aufsprang und Cedric wild die Hand schüttelte.

»Alice!«, rief es.. oder er erfreut, »Welch eine Ehre, dich erneut kenen zu lernen! What a honor! Gestatten, my name is Humpty Dumpty!«

Cedric starrte verblüfft auf das Ei herab, welches ihm gerade mal bis zur Hüfte reichte. Für ein Ei war es außerdem auch relativ gut gekleidet, mit Hut und Krawatte, so wie es sich für einen anständigen Gentleegg gehört.

Die.. Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Mr. Dumpty..“, erwiderte er nun schon zum zweiten mal, zusehens verwirrt. Hilfesuchend sah er zu seinem Zwillingsbruder, der dies jedoch nicht bemerkte, sondern sich an die Grinsekatze wand.

»Dich hab ich ja schon ewig nicht mehr gesehen, Cheshire.«, meinte Simon nachdenklich und zog sich einen Stuhl heran. »Wenn man’s genau nimmt, seit dem Tod deiner Herrin nicht mehr..«

»Du machst mir Laune, Kleiner.«, grummelte der Kater miesepetrig und stützte den Kopf an seiner rechten Vorderpfote ab. Überrascht stellte Cedric fest, dass der Kopf den Körper gar nicht mehr berührte. Er blinzelte.

Wer war deine Herrin?“, erkundigte er sich, gespannt, ob sich auch hinter dieser Rolle eine Person versteckte, die er kannte. „Wie lautete ihr Name?“

Da der Kater schmollte, beantwortete sein Tischkollege Humpty Dumpty ihm die Frage.

»Als very rich Gräfin hatte Suiren die Aufgabe, Alice nach Kräften zu supporten. Oft wurde die Lady anstatt unserer beloved Alice vom Jabberwocky gekidnapped – Drachen, I just can’t understand them! – well, meist hat Alice es geschafft, the Dragon rechtzeitig zu besänftigen… bis auf the last time. Poor Su, meine Wenigkeit empfand sie als very pleasant Gesprächspartner. Oh und by the way, Alice, du stinkst nach Rauch. Don’t say you were bei this obnoxious Franzosen?«

Unfreiwillig.”, murmelte Ced leise, während er sich seinen Grübeleinen hingab. Es betrübte ihn, Su tot zu wissen, doch für Trauer war in dieser surrealen Welt im Moment keinen Platz. Der Gedanke daran, dem Jabberwocky nur so knapp entronnen zu sein, ließ ihn erschaudern. Sein Glück war wohl nur gewesen, dass der Drache schlecht sah und er, genau wie Tara, durch den Aufenthalt bei Pierre absolut nach Rauch stanken. Ob die Riesenechse ihn ansonsten erkannt, errochen, hätte? Cedric wollte gar nicht daran denken.

Der Jabberwocky.. er gehört zur Roten Königin?“, erkundigte er sich zweifelnd. Was mochte das für eine Frau sein, die einen Drachen auf ihre Seite zog?

»Ganz right. Alice, setz dich doch to us! I can’t mitansehen, wie du da so bedröppelt dastehst!«

Cedric blieb wo er war. „Wie finde ich die Weiße Königin?“, fragte er bestimmt. Die Grinsekatze entblößte ein weiteres Grinsekatze-Grinsen, die Augen funkelten belustigt.

»Hab ich dir nicht bereits gesagt, sie ist verschwunden?«

Heißt nicht, dass man sie nicht mehr finden kann.“, gab Cedric trotzig zurück und verschränkte die Arme. „Also, irgendwelche brauchbaren Ratschläge für mich?“

»Allerdings. Wäre aber doch langweilig, wenn ich alles verriete, oder?«, erwiderte Cheshire grinsend, ehe er sich in Luft auflöste und direkt neben Cedric wieder auftauchte. Der Blonde wich erschrocken einen Schritt zurück, den Kater böse anfunkelnd.

»Du hast übrigens Recht. Wurde auch Zeit, dass du mal dein Köpfchen einschaltest. Die Königin ist durchaus noch am Leben, ich kann dir sogar genau erklären, wo sich ihr Herrschaftssitz befindet.« Der Kopf der Katze schwebte kopfüber vor seinem Kopf. »Das Problem ist.«, fuhr der Kater fort, »Dass sich unsere Königin in ihr Herz zurückgezogen hat, soll heißen, es kommt niemand so schnell in ihre Nähe.«

Aber ich bin Alice.“, argumentierte er, wenngleich Ced sich am liebsten die Zunge abgebissen hätte, bei den Worten, die über seine Lippe kamen. Bin ich nicht. Mein Name lautet Cedric Evans.

»Du bist Alice.«, stimmte der Kater zu, der immerhin nicht die Fähigkeit des Gedankenlesens zu besitzen schien. Glücklicherweise.

»Oh well, maybe the Dodo can help?«, mischte sich Humpty Dumpty ein. Belustigt (und das mochte in Anbetracht der Umstände wahrlich ein Wunder sein) stellte Cedric fest, dass sein Bruder entgeistert und augenscheinlich verwirrt zwischen ihnen dreien umherblickte.

»Der Dodo ist ein Trottel. Und komm mir gar nicht erst mit Gryphon, da würd ich sogar Jabberwocky den Vorrang geben.«, brummte Cheshire, verschwand neben Ced und setzte sich mit seinem ganzen Körper wieder dem Ei gegenüber.

Dieses wirkte entsetzt über die Äußerung der Grinsekatze.

»How can you einen der Fünfen derart beleidigen?«

Cheshire lachte sein tiefes, schnurrendes Lachen.

Moment.. Moment! Wer oder was ist Dodo? Und was meinst du mit den Fünfen?“, unterbrach Ced verärgert, weil er mal wieder nicht verstand, wovon die Bewohner des Landes sprachen.

»Das weiß ich übrigens auch nicht genau.«, gestand Simon und fuhr sich verlgen durch die Haare. »Ich weiß nur dass sie sehr mächtig sind.. und man sich besser von ihnen fernhält.« Er lächelte schief.

»Wie schon gesagt, absolut grün hinter den Ohren! Alle beide!«, Die Grinsekatze konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Hast aber Recht Kleiner. Die Fünf, sprich: Dodo, Eule, Greif, Rabe und Drache, haben zu ihrer Zeit dem Wunderland ihre Form gegeben. Naja, allerdings kamen die fünf nicht unbedingt gut miteinander aus.. gab n riesigen Krawall, bis die Weiße Königin es geschafft hat, ihren Streit zu schlichten. Seitdem steht sie in der Gunst von Dodo und Gryphon, die Eule hat sich in ihre Unabhängigkeit zurückgezogen und ward seit Jahren nicht mehr gesehen.. naja, Raven und Jabberwocky hingegen waren nicht so begeistert, ich glaub sie lagen damals recht gut im Rennen. Waren daher mit Freuden dabei, als sich deren Tochter die Regierung an den Nagel riss.. achjaah. Alice, wenn du vorhast, die Weiße Königin zu treffen, halte dich einfach in südwestlicher Richtung. Tüdeldü~« Mit diesen Worten löste sich die Grinsekatze in Luft auf. Nur die Pfote winkte noch ein wenig länger zum Abschied.

Humpty Dumpty haut mit einer Faust auf den runden Tisch.

»And that’s the reason, warum dieser Kater such an annoying Gesprächspartner ist! He’s disappearing all the time! I hope ihr zwei leistet mir noch ein wenig Gesellschaft?« Hoffnungsvoll blickte er die Zwillinge an.

Cedric schüttelte den Kopf. „Ich will weiter. Noch stehen zu viele Fragen offen.“

»Ich verstehe.. Alice, I wish you all the best! Simon, ich würde sagen, we’re playing a little game?«

Humpty Dumpty nahm seinen Hut ab und zog ein Set Spielkarten hervor. Simon nahm an und Alice wanderte weiter durch’s Wunderland.

 

Ced wusste nicht wie lange er schon so dahinwandelte. Er war sich nicht einmal sicher, ob er die Gesellschaft vermisste oder nicht. Der Nebel hatte sich endlich gelichtet, langsam brach die Sonne hinter den düsteren Wolken hervor und ließ erahnen, dass sich der Tag langsam dem Ende zuneigte. Was seltsam war, wenn man bedachte, dass er doch zu nachmittäglicher Stund hier gelandet war? Wie dem auch sei, diesmal hatte er auch die Zeit, um einen Blick auf die Landschaft zu werfen, die mit fremdartigen Pflanzen nur so strotzte. Das Gelände war nach wie vor eher flach, was eine weite Aussicht versprach. Allerdings schmerzten ihm vom ganztägigen Laufen die Füße, die Klamotten, die ihm der Hutmacher geschneidert hatte, waren in der kurzen Zeit bereits ziemlich schmutzig geworden, zudem stanken sie immer noch fürchterlich nach Rauch, was der ollen Raupe zuzuschreiben war. Sein Gehirn fühlte sich von all den kuriosen Wesen, denen er begegnet war, ebenfalls völlig matschig an. Die ganzen Informationen, die sie ihm versucht hatten zu erklären, machten das Resultat nicht besser, was wohl nicht an dem Inhalt an sich lag, sondern vielmehr an ihrer Art und Weise ihm etwas näher zu bringen.

Im Grunde wünschte sich Cedric nur eine Pause. Ein Ort, eine Hütte vielleicht, wo er die Nacht verbringen konnte, war das zu viel verlangt? Ehrlich gesagt hatte der Junge keine Lust ein Lager unter freiem Himmel aufschlagen. Der Boden war noch nass vom Regen am Vormittag, außerdem konnte man in dieser Fremde nicht wissen, was noch so am Wegesrand lauerte. Und Hunger hatte er auch, mehr als einen Keks der ihn wachsen ließ, hatte er bei der Teegesellschaft ja auch nicht abbekommen. Selbst der Tee war ja bedauerlicherweise im Boden versickert.

Seine Gedankengänge wurden jäh unterbrochen, als ein hohes Kreischen die Luft erfüllte. Ced riss den Kopf herum, suchte eine Deckung, eine Möglichkeit sich zu verstecken, jedoch erfolglos. Die Luft blieb ihm weg, als sich eine Kralle in seinen Rücken bohrte und ihn zu Boden warf. Staub wirbelte auf, Dreck drang ihm in Mund und Nase.

Was.. Was willst du von mir?“, fragte er das Geschöpf nach Luft japsend. Ced konnte nicht erkennen, was ihn da auf dem Bauch festgenagelt hatte, er wusste nur, dass diese Kralle gerade dabei war, ihm eine äußerst schmerzhafte Wunde zuzufügen.

»Bist du Alice?«, knurrte das Wesen mit einer (nach dem hohen Kreischen) überraschend tiefen Stimme.

Was willst du von mir? Wer-,“ Sein Angreifer verstärkte den Druck auf die Kralle. Panische Angst überfiel Cedric. Dieses Monster konnte ihn ohne mit der Wimper zu zucken zerquetschen, wenn es wollte. Oder mit den scharfen Krallen durchbohren – beides keine allzu rosigen Aussichten.

Ja.. Ja ich bin Alice!“, schrie er deshalb verzweifelt, nicht wissend, ob dies jetzt seine Rettung war – oder sein Todesurteil.

Das Wesen lies von ihm ab, die Krallen zogen sich zurück. Cedric drehte sich auf den Rücken, um seinem Angreifer überhaupt sehen zu können. Schmerzhaft verzerrte er das Gesicht, als er auf der frischen Wunde landete; zu seiner Überraschung blutete sie nicht.

Das Geschöpf entpuppte sich als Gryhon, wie Cedric sofort feststellen konnte. Kopf und Flügel eines Greifvogels, der gewaltige Leib eines Löwen. Feindselig fixierten die beiden einander.

»Komm mit.«, knurrte es schließlich, »Die Weiße Königin erwartet dich.«

Gryphon senkte – äußerst widerwillig – den Kopf, ein Zeichen von Demut und gleichzeitig das Signal, dass der Junge aufsitzen durfte. Ced starrte ihn an. „Nein.“, wehrte er ab, „Oh, nein nein nein nein nein.. das ist wirklich nicht nötig!“

Der Greif hob blitzartig den Kopf. »Willst du mich beleidigen?!«, donnerte er. Cedric zuckte zusammen. »Als ob du Zwergenkind mit mir mithalten könntest! Und jetzt steig auf. Ich spüre bis in die Federspitzen, dass Raven hierher unterwegs ist.« Der Junge ergab sich seinem Schicksal und schwang sich widerwillig auf den Greifen. Der gab ein tiefes Brummen von sich, was in Cedrics Ohren nach Schadenfreude klang. Der Absprung kraftvoll, der Flug ein absoluter Horrortrip. Gryphon ließ es sich nicht nehmen, Ced ordentlich durchzuschütteln – die Kälte in der Luft sowie die Wunde am Rücken taten ihr Übriges, ganz zu Schweigen von dem Gekreische das Miteinging. Nach einer Weile gewöhnte sich Cedric an die Umstände und begann – obwohl sich sein Körper mittlerweile taub anfühlte – die Aussicht zu genießen. Ihre Umgebung schien winzig, die untergehende Sonne tauchte die Welt in feurige Farben.

Cedric blinzelte. Nein, da unten brannte es tatsächlich.

Was ist da los?“, brüllte er gegen den Wind.

»Jabberwocky hat dich gesucht.«, erklärte der Greif finster und legte danach noch einen Zahn zu. Ced’s Magen drehte sich um.

Können wir nichts tun?“

Gryphon lachte. »Was denn? Willst du draufgehen?«

Ced schwieg verdrießlich.

Ein gewaltiges Gebrüll kam aus Richtung des Feuers. Cedric drehte den Kopf und erblickte am Boden den rasenden Drachen, welcher sich schwerfällig anschickte, loszufliegen. Der Junge schluckte.

»Keine Sorge Knirps, der holt mich nie ein!«

Und was ist mit dem da?!“ Ced hielt sich die Hand als Schirm über die Augen und erkannte aus der Ferne etwas, dass sich nur als Rabe definieren ließ.

Gryphon zögerte kurz. »Hm, mit deinem Gewicht könnte das ein Problem werden.«

Was soll das- WOAW!“ Cedric schrie unwillkürlich auf, als der Greif in einen steilen Sturzflug überging.

»Wehe du reißt mir auch nur eine Feder aus!«, drohte er, als Ced sich fester krallte. Vor ihnen tauchte, mitten in der Ebene, ein gewaltiges Anwesen auf, welches nur zur Weißen Königin gehören konnte. Hinter ihnen kam Raven immer näher. Ced schluckte. Wenn sie Glück hatten, waren sie rechtzeitig hinter den Toren, denn er bezweifelte unerklärlicherweise stark, dass ihr Verfolger sie dann noch weiter jagen würden.

Sie hatten kein Glück.

Raven holte den Greifen ein und rammte das Tier in die Seite. Gryphon gab ein ohrenbetäubendes Kreischen von sich, seine Löwenpranke verfehlte ihr Ziel jedoch um Haaresbreite. Cedric hatte alle Mühe sich bei dem Gefecht noch richtig festzuhalten. Der zweite Gegenangriff gelang und fügte der Krähe eine blutende Wunde zu. Dem großen, schwarzen Vogelvieh schien das jedoch wenig zu beindrucken. Stattdessen schlug er mit dem Schnabel nach Gryphons Auge, der sich insinktiv mit einem Flügel schützte. Beide Hohetiere verloren bei dem Kampf an Höhe. Raven’s nächster Angriff zielte auf ihn selbst ab. Ced riss abwehrend die Hände vor’s Gesicht, allerdings war er trotzdem der Wucht des Schlages ausgeliefert. Der Schnabel schlitzte ihm den halben Arm auf. Der Junge brüllte auf vor Schmerz, konnte sich nicht mehr halten und stürzte in die Tiefe. Dabei fiel ihm das kleine Fläschchen, welches er von Pierre geschenkt bekommen hatte, aus der Innentasche des mittlerweile zerschlissenen Anzugs. Zu seiner Belustigung schluckte Raven das Fläschchen versehentlich und schrumpfte dabei auf Minimalgröße. Ced blinzelte, im ersten Moment glaubte er, sein Verstand spiele ihm einen Streich, doch – nein. Für Gryphon war es nun natürlich ein leichtes Spiel den Raben zu bezwingen, überdies hinaus konnte er Cedric vor seinem Aufprall auffangen, wobei die Landung nichtsdestotrotz eher eine Bruchlandung darstellte.

 

Der Boden war staubig. Cedric hustete, erneut drang Dreck in Augen und Mund, sein Arm schmerzte fürchterlich. Oben war von Unten nicht zu unterscheiden. Ihm schwindelte. Was war geschehen? Wo befand er sich? Mühsam öffnete er die Augen, vor sich konnte er verschwommen eine Frauengestalt in prächtigen weißen Kleidern ausmachen. Doch die Strapazen der letzten 24 Stunden – oder in welcher Zeit auch immer hier gerechnet wurde – verdeutlichten sich, weswegen Ced der Boden auf einmal als unglaublich gemütlich vorkam. Man durfte sich ja wohl einmal eine Pause gönnen… oder?

 

Ein Wispern, ein Flüstern. Cedric stöhnte.

»Oooh, ich glaube er wacht auf!«

Ced rekelte sich. Langsam kehrte sein Geist wieder in seinen Körper zurück. Er spürte eine dünne, weiche Decke um sich, die ihn einhüllte und es deutlich erschwerte, den Zustand des Schlummers zu verlassen. Wo er sich wohl befand? »Majestät! Sehen Sie doch!«

Erschrocken riss er die Augen auf. Vor ihm stand ein Kind von circa neun oder zehn Jahren, schwarzer Wuschelkopf und blau leuchtenden Augen. Ganz vage erinnerte er Ced an dessen Großcousin Sky-Alexandre, allerdings war dieser älter als er selbst… wobei dieses Land ja auch anderen Gesetzen folgte.

Doch das Kind mal beiseite.

Die Weiße Königin war eine bemerkenswert schöne Frau in einer gewissen Reife, doch weder das noch ihre beeindruckenden bauschig-weißen Kleider, sah Cedric wirklich. Was er sah, war eine Frau ihm wohlbekannt, die Ex seines Vaters, die Mutter seiner kleinen Schwester sowie selbige seiner... was immer das zwischen Ran und ihm war.

Kate.“, begrüßte der Junge sie daher eher abfällig. Angesprochene runzelte lediglich die Stirn.

»Kennen wir uns in diesem Leben?«

Entgeistert sah er seine eventuell zukünftige Stief- wie Schwiegermutter an, bis ihm einfiel, dass ihn bisher ja auch niemand erkannt hatte. Verdammt. „Ich.. äh.. Verzeihung, Verwechslung.“

»Verziehen!« Woah, was.. war das wirklich Kate? Überhaupt… waren sich die Personen hier und dort identisch? Oder gaukelte ihm sein Verstand nur solches vor, erkannten sie ihn deshalb alle nicht? Oder stellten sie hier nur eine Projektion seiner eigentlichen Vorstellung über eben die jeweilige Person dar?

Cedric spürte förmlich die Rädchen in seinem Kopf rattern, mit einer Handbewegung schickte die Weiße Königin das Kind hinaus.

»Kannst du dich bewegen?«, erkundigte sie sich scheinbar ehrlich besorgt und musterte ihn kurz.

Ced hatte nur noch eine (sehr gemütliche) weiße Hose an, sein Oberkörper war teilweise einbandagiert, seinem Unterarm erging es nicht anders. Vielen Dank hierfür an Gryphon und Raven. (Wobei Raven bereits seine Rache erhalten hatte…). Überraschenderweise tat ihm kaum etwas weh, ob hierbei nachgeholfen wurde? Wer wusste schon welche Zauber dieses Land noch bereithielt? Wie lange hatte er überhaupt geschlafen? Ced kannte die Antworten nicht, doch im Grunde genommen waren diese sowieso irrelevant. Sie wartete seine Antwort übrigens auch nicht ab. Wurden Antworten in diesem Land überbewertet?

»Da es dir gut zu gehen scheint, begleite mich doch auf ein Tässchen Tee.«

Oh Gott, was war nur mit dieser Kate.

Cedric nickte jedoch, stand auf und zog sich ein weißes Hemd über, welches eine Dienstmagd ihm gnädigerweise reichte.

 

Die Gänge waren hoch und weit, typisch für Schlösser im gotischen Baustil. Für all den Prunk hatte der Junge jedoch kein Auge, dafür schwirrten in seinem Kopf zu viele unbeantwortete Fragen, drehten sich lästig im Kreis und ließen sein Denken nicht zur Ruhe kommen.

Sie gelangten auf einen Balkon mit fabelhaftem Panorama. Satte Wiesen, blauer Himmel, Skulpturen, die an Schachfiguren erinnerten zierten das Gelände. Tee und Gebäck waren bereits serviert, die Diener knicksten eilig, ehe sie verschwanden. Alles prächtig, wunderbar, doch dafür hatte Cedric jetzt keinen Sinn. Mürrisch setzte er sich hin, ohne auf ein Wort oder eine weitere Aufforderung zu warten.

Was soll das? Ich hörte Ihr seid verschwunden oder weggesperrt? Doch hier steht Ihr in all dem Glanz ohne dass Euch etwas fehlt! Könnt Ihr mir das erklären?“, schimpfte er prompt los und vergaß jegliche Etikette, die ihm in dieser Form sowieso fremd war, zumal er hierbei verdammt nochmal Kate vor sich sitzen hatte, was die Situation nicht gerade zum Besseren bewand. Schließlich versuchte er sich dennoch irgendwie einzufügen, weswegen er in einem zynischen Unterton anfügte: „Eure Majestät.“

Die Weiße Königin setzte sich ihm gegenüber und ließ nun auch alle Höflichkeit fallen.

»Das du es wagst! Du hast deine Rolle doch ebenfalls nicht wahrgenommen, wenn ich mich nicht recht entsinne? Deine Aufg-,«

Meine Rolle? Ich hab mir das doch nicht ausgesucht, ich hab doch keine Ahnung von diesem Land!“, unterbrach er die ehemalige Regentin scharf.

»Niemand sucht sich seine Rollen aus, ist dir das noch nicht augefallen? Egal wer du bist und wo du lebst, du wirst in eine Rolle hineingeboren! Benimm dich nicht so naiv wie ein Kind, wenn du doch bereits ins Mannesalter schreitest!«

Die beiden waren mittlerweile wieder aufgesprungen und kurz davor sich an die Kehle zu gehen, als jemand sie unterbrach, nein, es wagte sie zu unterbrechen.

»Ich darf doch wohl sehr bitten, ist das der Tonfall den man bei einer vornehmen Gesellschaft anschlägt?«

Beide drehten sich mit funkelnden Augen um und blickten in die grün leuchtenden Smaragde einer Katze, die selbst Cedric mittlerweile wohl bekannt war.

»Es ist lange her, Grinser.«, begrüßte die Weiße Königin ihn stirnrunzelnd.

»Wie kann es auch nicht lange her sein, wo doch niemand mehr Zugang zu Euch fand, Herrin? Dank an Alice und schon bin ich wieder hier!« Cheshire drehte den Kopf auf den Kopf und zeigte amüsiert seine spitzen Zähne.

Ced fluchte. „Okay.. Stopp, Stopp, Stopp! Ich verstehe gar nichts!“

»Das ist ja nichts Neues.«, unterbrach ihn der Kater grinsend.

Du bist jetzt erstmal ruhig, ich will endlich meine Fragen stellen ohne dauernd unterbrochen zu werden und verdammt nochmal, ich will sinnvolle Antworten!“, meinte er störrisch und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Die Antworten können nur so sinnvoll sein, wie die Fragen selbst.«, erwiderte Cheshire belustigt, während er den Löffel in der Teetasse umrührte.

»In diesem Fall stimme ich Alice zu Grinser, bitte sei ruhig, wir wollen versuchen eine konventionelle Konversation zu führen.« Kate setzte sich wieder, nippte an ihrem Tee. Der Kater hingegen verdrehte die Augen und visierte stattdessen die Vögel an. In dieser Hinsicht war er also doch eine normale Katze.. nun, wie auch immer, Ced tat es seiner Stiefschwiegermutter gleich und setzte sich hin, wenngleich die Anspannung der am Tisch sitzenden Personen sich dadurch nicht im Mindesten löste.

Gut… Gut.. Gut.“, meinte Cedric zerstreut und zugleich ein wenig irritiert, da er nun anscheinend tatsächlich seine Fragen stellen konnte. Nach dem Versuch seine Gedanken ein wenig zu ordnen, begann er langsam: „Ich bin.. einem schwarzen Hasen gefolgt, das war noch bei mir zu Hause. Danach fiel ich in ein Loch, landete hier und begegnete als erstes der Grinsekatze. Das Einzige was ich im Grunde will, ist wieder zurück zu mir nach Hause. Allerdings beschleicht mich die dumpfe Vorahnung, dass das nicht so einfach geht.“, fasste er kurz die Anfänge zusammen, mehr mit dem Ziel sich selbst eine gewisse Struktur zu verschaffen, als hier irgendjemanden etwas zu erklären.

»Ganz recht.«, stimmte Kate ihm zu, »Keine Hilfe ohne Gegenhilfe.«

Kein Prinzip der Nächstenliebe, dachte Cedric ironisch, wobei es im Grunde ein gängiges Phänomen war, da musste er ihr leider Recht geben.

Ich komme mir ein wenig vor wie auf einem Spielbrett, denn mir scheint jede Person kann nur in einem bestimmten Bereich fungieren, indem er oder sie.. oder es die jeweiligen Rechte besitzt. Lieg ich in der Annahme richtig? Wem muss ich also helfen, damit mir geholfen wird?“

»Der Königin.«, antwortete Kate. »Dem Volke.«, mischte sich der Kater ein. Ced zuckte kurz zusammen, als Cheshire’s Kopf neben seiner Schulter auftauchte. Die Weiße Königin funkelte ihn böse an, schwieg aber.

»Nungut, hör zu, ich will es dir erklären.«, sagte sie mit einer einladenden Geste, »Ich habe dieses Land lange Zeit regiert, gut regiert. Das Wort der Königin ist hier Gesetz, bei ihr laufen die Fäden zusammen. Alice wird ins Wunderland gerufen, wenn dieses sich in Not befindet.«

Von wem?“, unterbrach Cedric sie, „Wer ruft Alice?“

Königin und Katze sahen sich abwägend an. »Wissen wir nicht genau.«, gestand sie. »Wir vermuten vom Land selbst.«

"Vom Land.. selbst?", wiederholte Ced skeptisch, "Wie.. soll das möglich sein? So klingt es, als führt das Land ein Eigenleben."

Beide sahen ihn schockiert an, der Kater brach schließlich in schallendes Gelächter aus.

»Aber das tut es! Natürlich tut es das, was glaubst du denn? Eure Majestät ich glaube langsam, wir hatten noch nie eine so bürokratische Alice!«

"Ich bin immer noch ein Kerl.", knurrte Ced leise als Antwort, aber sie hörten ihm wohl sowieso nicht zu. Das Land lebte? Darüber würde er nicht diskutieren, seiner bisherigen Erfahrung nach, hatten die Bewohner dieses Landes tatsächlich alle eine Schraube locker.

"Gut, lassen wir das. Was mich stattdessen eher interessiert ist.. wie habt Ihr Eure Regentschaft denn verloren?"

Die Weiße Königin schwieg eine Weile - Cedric hatte das Gefühl, sie… schmollte? Als ob das jetzt angebracht wäre!

»Man möchte es ja kaum glauben.. aber ich bin nicht ganz gefühllos. So grün wie du noch hinter den Ohren bist, wirst du das wohl nicht verstehen können: Sowas nennt sich Liebeskummer, weswegen ich mich zurückgezogen hatte, in die Tiefe meines Herzens.«

Übertreibs mal nicht.. Cedric musste einen Würgreiz unterdrücken, setzte nach Außen hin jedoch ein einwandfreies Lächeln auf.

Aha, verstehe. Euer Herz war also verschlossen, genauso wie die Tore Eures prächtigen Schlosses und konnte demnach nur von einem Lieben – oder Alice geöffnet werden.“, kombinierte er gewagt. „Gut, jemand Liebes war demnach nicht vorhanden-,“ Ein Wunder. „-Aber warum kann Alice.. ah, ist es wieder eines Eurer Landesgesetze?“

»Ganz Recht.«, stimmte Kate ihm widerwillig und offenkundig entrüstet über seine Worte zu, »Allerdings würde ich dir raten deine Zunge zu hüten! Du siehst, ich habe keine Macht mehr, also kann ich dir nicht helfen zurückzufinden. Hilf mir, meinen rechtmäßigen Platz wieder einzunehmen und ich werde dir im gleichen Sinne entgegenkommen.«

Cedric dachte nach. Prinzipiell klang es nach einem fairen Tauschgeschäft, allerdings sprachen sie hier nichts destotrotz von Kate, weswegen alles in ihm schrie den Handel abzulehnen, denn dieser Frau zu trauen würde ihm nichts Gutes bringen. Andererseits offenbarte sich nun anscheinend die einzige Möglichkeit von hier zu flüchten, weswegen er die Chance wohl oder übel nutzen musste. Und hatten die Bewohner des Wunderlandes die Weiße Königin nicht geliebt? Hatte er bisher nicht eine Gestalt getroffen der für ihre Tochter einstand?

Es stand für ihn außer Frage, dass er ertwas tun musste, dass nur die Person namens Alice die Rote Königin aufhalten konnte, denn ganz offensichtlich war das eigene Volk nicht dazu in der Lage, sich selbst zu helfen, beteten alle nur Alice herbei, wie einen Racheengel, der zu ihren Gutdünken handeln sollte, die Dame im Schach, der Joker eines Kartenspieles. Nur – wer oder was war Alice? Er stellte die Frage nicht, zweifelte zu sehr daran, hierauf eine vernünftige Antwort zu erhalten.

Einverstanden.“, willigte er schließlich ein, unglücklich über seine Antwort, doch unfähig sich einer besseren zuzuwenden. „Was muss ich tun?“ Ein nahezu sanftmütiges Lächeln war auf den Lippen seines Gegenübers zu sehen, als Kate zufriedengestellt ihre Tasse auf den dazugehörigen Unterteller abstellte und ihm barmherzig eine Antwort gab.

»Töte die Rote Königin.«

 

Natürlich hatte es so kommen müssen. Vermutlich kringelte sich das Schicksal bereits vor Lachen am Boden. Eigentlich auch ziemlich dumm von ihm, dass er nicht selbst auf diese fatal wirkende Antwort der Weißen Königin gekommen war.

Die Teestunde war schnell beendet worden, hatte sich nach den unglücksbringenden Worten doch ein seltsames Schweigen über die kleine Runde gelegt, dass selbst die Grinsekatze ihre unnötigen Kommentare unterlassen hatte. Gesichtslose Diener halfen ihm nun in blutrote neue Gewänder. Ced ging voran, die letzten Ösen selbst zuknöpfend und froh, hier endlich wieder rauszukommen, selbst wenn sich sein Aufenthalt geradezu auf eine unvergnügliche Nacht beschränkte.

Eure Majestät.“, begrüßte er Kate geringschätzig, die bereits an den Toren wartete und deutete eine, wenngleich unwillige, leicht spöttisch wirkende, Verbeugung an.

»Alice!«, begann die Weiße Königin streng, »Um dich meiner Tochter zu entledigen, benötigst du mein Schwert, welches sich derzeit ungünstigerweise im Besitz der Prinzessin befindet. Hol es dir zurück und bewältige deine Aufgabe! Normalerweise solltest du nun einen Treueschwur leisten, aber.. unter gegebenen Umständen ist dies wohl hinfällig.« Sie räusperte sich kurz. »Gryphon ist noch verletzt, Dodo wird dich diesmal begleiten.«

»Um dich meiner Tochter zu entledigen..« Wie kann sie nur so von ihrem eigenen Kind reden?, Cedric sah sie kalt an, wovon diese sich jedoch nur wenig beeindrucken ließ. Bei so einer Mutter.. nun, er war gespannt, was ihre Tochter dann für ein Mensch war. Falls überhaupt menschlich.

Auf einen weiteren Flug mit einem der Hohetiere freute sich Cedric nicht unbedingt, allerdings schien es zweifelsohne der schnellste Weg zu sein – und er wollte zugegebenermaßen ebenfalls schnellstmöglich an sein Ziel.

Der Wind zog ihm wieder fürchterlich um die Ohren, aber immerhin benahm Dodo sich nicht so stolz wie Gryphon, sondern ließ ihn eher in Ruhe – gut, vielleicht war er sich einfach zu fein um mit ihm zu reden, aber so oder so war es Cedric ganz recht, konnte er so zumindest versuchen, die vergangenen Ereignisse einigermaßen zu ordnen und diesen eine gedankliche Struktur geben. Angenehm war außerdem auch, dass sie diesmal keine Verfolger abzuschütteln hatten. Nur, um dies mal zu erwähnen.

Und dann erschien es vor Ihnen.

Das Anwesen flächenmäßig eher klein, erhob sich hoch aus der bereits eher hügeligen Landschaft. Es schien eng gebaut und verwinkelt, dennoch erhaben. Hinter dem Bau ragten hohe Berge hervor, was dem Ganzen zu einer uneinnehmbaren Ansicht verhalf.

Das Schloss der Roten Königin.

»Das ist schlecht.«, meinte Dodo leise, während sie näher kamen. »Jabberwocky und Raven halten Wache.«

Raven?“, hakte Cedric nach, „Wie kann das-,“

»Du hast doch deine Originalgröße auch wieder erlangt.«

Hm.. Moment, woher weißt- woaah.“ Seine Frage verschluckte der Wind, als Dodo plötzlich abtauchte.

»Sie haben uns entdeckt. Ich muss dich so schnell wie möglich abwerfen und dann weg. Wenn du Glück hast, werden sie mich verfolgen.«

Abwerfen? „Was..?!“ Doch Dodo flog bereits dicht am Boden entlang und entledigte sich dem Jungen mit einer (mehr oder weniger) eleganten Drehung, woraufhin Cedric sich nicht mehr am Vogelrücken festhalten konnte. Sofort drehte das riesige Federvieh und flog weiter in Richtung der Berge, die sich der untergehenden Sonne entgegenstreckten.

Cedric ächzte, die im Wunderland zugezogenen Verletzungen brannten wie Hölle. Aus den Augenwinkeln konnte der Junge noch sehen, wie eine Riesenechse dem Dodo folgte. Das hieß, Raven behielt die Stellung.

So, blieb nur noch die Frage offen, was genau jetzt zu tun war. Es wäre ja nicht so als hätte er keinen Plan oder Ähnliches.

Wunderbar.

Cedric rappelte sich auf und klopfte sich grob den Staub von den neuen Klamotten. Wie sich herausstellte, befand er sich direkt im Schatten vor der Burg, ein Wassergraben schützte die hohen Wälle zusätzlich. Genauer gesagt stand er direkt vor der Zugbrücke und die beiden Wachen beäugten ihn misstrauisch. Zumindest glaubte er das, er konnte ihre Gesichter nämlich nicht ganz ausmachen oder um es anders zu formulieren: Es waren rote Spielkarten, jeweils mit der Herz10 vermerkt und einer schmalen, roten Lanze in der Hand, die Richtung Tür zeigte.

Spielkarten mit Händen. Als hätte er nicht schon genug gesehen.

Was sollte er machen? Einfach mal nett fragen, ob er eintreten dürfe? Als ob sie den zukünftigen Mörder ihrer Königin einfach so eintreten lassen würden. Aber immerhin war er Alice, am Ende erwarteten sie ihn ja. Der Fakt immerhin nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Oder war es einfach nur purer Wahnsinn? Beides klang plausibel.

Mörder. Das Wort hallte in seinem Kopf wider, bösartig und unerbittlich. Erst jetzt wurde ihm die Tragweite seiner Entscheidung bewusst. Er konnte doch unmöglich ein junges Mädchen abschlachten wie ein Tier! Aber vielleicht zeigte sich die Prinzessin ja willig und ein ruhiges Gespräch bei einer netten Tasse Tee würde ausreichen. Haha, wie war das mit dem puren Wahnsinn? Wie dem auch sei: erstmal rein ins rote Schloss.

Er beäugte die beiden Wachen skeptisch, da diese bisher nicht den Hauch einer Reaktion gezeigt hatten. Da er allerdings sowieso nicht wusste, wie er nun am besten vorgehen sollte, entschied er sich es auf den Versuch ankommen zu lassen. Er wollte gerade den ersten Fuß auf die Zugbrücke setzen, als jemand an seinen Klamotten zog. Überrascht blickte er auf seine kleine Schwester Alessa, die mit unsicherem Blick hinter ihm stand.

Alessa!“, rief er dementsprechend erstaunt aus und kniete sich zu ihr runter, um mit dem Mädchen einigermaßen auf Augenhöhe zu sein. „Was machst du denn hier?“, fügte er leiser hinzu.

»Die.. die haben Papa!«, antwortete sie schluchzend und brach prompt in Tränen aus. »D-Die haben ihn einfach mitgenommen und Onkelchen auch!«

Ei, wenn hier schon solche Maßnahmen ergriffen wurden, konnte er sich ein vernünftiges Gespräch mit der Herzkönigin wohl abschminken. Aber erstmal: Wie beruhigte er seine Schwester am besten? Ced war mit ihren Tränen ein wenig überfordert. Oder auch ein klein wenig mehr. Er warf einen unsicheren Blick rüber zu den Wachen, die sich weiterhin in Stille hüllten.

»Die sehen uns noch nicht.«, nuschelte Alessa, die seinen Blick offenbar bemerkt hatte. Tapfer versuchte das kleine Mädchen ihr nasses Gesicht zu trocknen und sich zusammenzureißen. »Die sehen uns erst ab der Zugbrücke, ab da beginnt ihr richtiges Reich.« Cedric nickte, verstand jedoch nicht wirklich. Die Gesetze des Wunderlandes blieben für ihn ein Buch mit Sieben Siegeln, an dessen Code er verzweifelte. Im Moment war er einfach nur froh, dass Alessa ihre Tränen zurückhielt.

»Alice!«, fuhr sie prompt fort und rüttelte an ihm. »Du musst mir helfen! Du bist doch gekommen um uns zu beschützen oder? Bitte hilf Papa da raus!«, flehte sie mit piepsiger Stimme.

Scheiße, gleich weint sie wieder. Ced biss sich auf die Unterlippe, wie konnte er Alessa am besten beschwichtigen? Glücklicherweise schien dies erstmal nicht nötig zu sein, solange sie Hoffnung hatte, blieb sie ruhig. Himmel!

Ist gut, ich verspreche dir ihn rauszuholen, ja? Also bitte nicht weinen.“, meinte er versucht beruhigend und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Alessa nickte zaghaft, ehe sie sich in eine Maus verwandelte und an ihm hochkrabbelte. (Diesmal musste er sich zusammenreisen, es kitzelte nämlich fürchterlich – die Kleine war flink!) Seine Schwester gab deutlich zum Ausdruck nicht alleine draußen warten zu wollen, was absolut verständlich war, ob sicherer blieb jedoch fraglich.

Cedric schluckte. Auf in die Höhle der Löwin.

 

Der Junge setzte den ersten Fuß auf die Zugbrücke, wodurch die Wachen sofort abwehrende Stellung bezogen. Ein Zurück gab es nicht mehr, weswegen er langsam, den Kopf leicht neigend, vor die Spielkarten trat.

Ich erbitte eine Audienz bei Ihrer Majestät, der Königin.“, begann er förmlich, ehe er (etwas zögerlich) hinzufügte: „Mein Name lautet Alice!“

Die beiden Wachen sahen sich kurz an, ehe der eine mit einem Wink das Tor öffnen ließ. Die großen hölzernen Flügel öffneten sich langsam, die Schaniere knirschten, als wären sie seit ewigen Zeiten nicht mehr bewegt worden und langsam gab sich der Blick auf eine ganz neue Welt frei.

Neu bedeutete jedoch nicht unbedingt gut. Es verbarg sich scheinbar eine vollständige Stadt hinter den hohen Mauern, ihre Bewohner sahen verängstigt oder gar feindselig auf den Neuankömmling – ihn. Ced kam sich schrecklich vornehm vor in seinen adeligen roten Klamotten, die ihm von der Weißen Königin überlassen worden waren, während die Menschen hier in Flicken herumrannten, als wäre es ihr einziger Besitz – was es vermutlich auch war. Der Junge biss sich nervös auf die Unterlippe. Wie hatte es nur soweit kommen können? Und wie um alles in der Welt sollte er das beenden?

Die Wachen ließen ihm jedenfalls keine Zeit zum überlegen. Zwei weitere Herz10er eskortierten ihn in die Tiefe der Stadt, in dessen Mitte – umgeben von einer weiteren Mauer – hohe Burgtürme hervorragten. Alessa zitterte fürchterlich auf seiner linken Schulter, allerdings wagte Cedric keine überflüssigen Bewegungen, um keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen.

Das zweite Tor, verankert im inneren Mauerring, öffnete sich ebenfalls, der Lärm des Alltags versiegte, als die Flügel mit lautem Knall hinter ihm zufielen und die Armut ausgrenzten, als wäre sie nicht vorhanden. Cedric folgte den beiden Wachen stillschweigend über diverse Flure, Ecken und Nischen, Treppen hoch, Stufen runter, nach links, nach rechts, geradeaus und mit der wachsenden Gewissheit, dass er hier alleine sicherlich nicht mehr rausfinden würde.

Kaum hatte der Gedanke Fuß gefasst, fing Alessa an auf seiner Schulter zu krabbeln, bis die kleine Maus schließlich seinen Arm hinabsauste. Erschrocken wandte der junge Mann den Kopf zu seiner Schweter in Tiergestalt.

»Papa ist ganz nah!«, fiepte sie leise als Antwort auf seine unausgesprochene Frage und sprang ohne eine weitere Erklärung von seiner linken Hand.

Alessa, nicht.“, zischte er ihr zu (ob sie ihn da unten überhaupt noch hören konnte?), ehe er vorsichtig zu den Wachen spähte, die sich unveränderten Schrittes fortbewegten. Hektisch überlegte Cedric, wie er weiter verfahren sollte, was das Geschickteste wäre, rannte seiner Schwester dann kurzerhand hinterher, folgte ihr die dunkle Abzweigung entlang, da er sie unmöglich in dieser Gegend alleine lassen konnte,

Bleib stehen! Alessa!“, rief er ihr zu, erst leise, dann lauter und fluchte schließlich, weil sie nicht hören wollte. Wieder ging es kreuz und quer durch das steinerne Gemäuer, in immer dunklere Gassen und im wahrsten Sinne des Wortes einfach der Nase nach, bis sie auf die Verliese trafen.

 

Alessa verwandelte sich wieder in ein kleines Mädchen zurück (was Ced ganz recht war, er hatte die ganze Zeit Angst gehabt, sie versehentlich zu zertreten). Die beiden Geschwister standen vor einer sehr solide aussehenden, eisernen Tür, die nicht unbedingt zum Eintreten einlud.

»Papa ist dahinter.«, flüsterte die Schlafmaus leise und berührte mit ihren kleinen Händen sacht das kalte Metall.

Ja..“, murmelte Ced, „Wir haben nur keine dazugehörigen Schlüssel.“

»Sucht ihr hier etwas bestimmtes?«

Ced drehte sich abrupt um, der Schreck stand ihm ins Gesicht geschrieben, Alessa klammerte sich ängstlich an ihn, nicht minder entsetzt als er selbst. Man konnte jedoch förmlich sein erleichtertes Ausatmen hören, als er die Person vor sich wiedererkannte.

Vor ihnen stand der schwarze Hase.

Tara!“, begrüßte er sie erfreut, wenngleich sie ihn nur finster anfunkelte. „Ganz recht.. sag, du hast nicht zufällig die passenden Schlüssel hierfür?“

Das Hasenmädchen seufzte genervt und trat schließlich näher heran an die beiden heran.

»Ich bin die Kerkermeisterin, wer sonst sollte sie haben außer ich? Aber nenn mir erstmal einen guten Grund weswegen ich sie dir überlassen sollte.«, erwiderte sie bezichtigend und verschränkte die Arme vor der Brust, eine unnachgiebige Geste.

Du… würdest ein kleines Mädchen glücklich machen?“, versuchte Ced es halbherzig, wenngleich er ahnte, dass dies ihre Meinung kaum ändern würde. Alessa setzte nichtsdestotrotz ihren besten Mauseblick auf, die Augen voller Hoffnung.

»Nicht sehr überzeugend, die Königin wird mir den Kopf abschlagen lassen.«, entgegnete sie wie erwartet, wenngleich sich ihre Stirn in besorgte – mitfühlende? – Falten legte.

Cedric seufzte. „Wahrscheinlich.. wobei ohne dich ja keiner mehr da wäre, der dir den Kopf abschlagen könnte.“

»Da findet sich sicherlich jemand, unsere Majestät ist nicht allzu kritisch bei ihrer Auswahl.«, erwiderte sie mürrisch, seufzte dann jedoch und warf ihm wider Erwarten die Schlüssel zu. »Fünf Minuten, dann komm ich wieder.«

Ced schenkte ihr ein ehrliches, ein aufmunterndes Lächeln, doch sie hatte sich bereits weggedreht. Alessa zog an ihm, plädierte klugerweise darauf keine unnötige Zeit zu verschwenden und er kam ihrer Bitte sofort nach, steckte den alten Schlüssel in sein rustikales Schloss. Mühevoll zog der Junge die schwere Eisentür auf, dahinter lag ein nur spärlich mit Fackeln beleuchtet niedriger Gang mit Gefängniszellen an beiden Seiten. Die meisten waren leer, glücklicherweise befanden sich keine abgenagten Skelette oder ähnliche Schauervorstellungen an den Seiten, allein die Vorstellung ließ ihn erschaudern. Alessa klebte an ihm wie ein zweiter Schatten, ängstlich und unbeholfen. Ced unterdrückte ein Seufzen – nein dies war wahrlich kein Ort für ein kleines Mädchen – oder für ihn.

»Papa!«, quietschte sie auf einmal und preschte vor, noch ehe Cedric etwas genaueres erkennen konnte.

Tatsächlich saß sein Vater hinter eine der Zellen, ziemlich zerlumpt, wenn man bemerken durfte.

»Alessa! Mein Kind wie kommst du denn her?« Falls eine weitere Bemerkung erlaubt war: Die Schlafmaus glich mittlerweile einem Wasserfall und versuchte den Gefangenen durch die Gitterstäbe hindurch zu umarmen (was freilich nicht recht funktionieren wollte).

Ich hab dich gesucht, Alice hat mir geholfen!“, meinte das Mädchen schluchzend und verwandelte sich dann in eine Maus um hinter die Gitter zu gelangen.

»Alice? Du meine Güte du bist auch hier?«

Mehr oder weniger freiwillig ja.. deine Ex hielt das für eine gute Idee. Sag, wo befindet sich denn der Märzhase?“, erkundigte er sich zerstreut, als ihm auffiel, dass sein Onkel sich nicht hier befand.

»In der Küche aushelfen oder Sklavenarbeit verrichten, wie auch immer du es nennen magst.«, gab der Hutmacher zur Antwort und fügte dann nahezu belustigt hinzu: »Irgendeine geheimnisvolle Macht scheint ihr schwarzes Vögelchen geschrumpft zu haben. Die Rote Königin ist mehr als erbost« Ein Kichern entfuhr seinem Vater, was wohl auf einen nicht allzuschlechten Seelenzustand hindeutete. Oder doch eher das Gegenteil? Cedric musterte ihn besorgt, es schmerzte ihn Matze in einem solchen Zustand zu sehen, auch wollte er seine Schwester auf Dauer nicht an einem solchen Ort wissen, doch würde sie sich wohl kaum dazu überreden lassen, Matze so schnell wieder zu verlassen, was auf der einen Seite verständlich, auf der anderen Seite ziemlich gefährlich war, so sehr, dass es nahezu an Dummheit grenzte. „Warum seit ihr überh-,“ Quietschen, ein Knall, das harte Geräusch, wie etwas ins Schloss fiel, schnitt Cedric das Wort ab. Die Eisentür?

Merkwürdig.“, murmelte er leise, dunkel ahnend, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging., „Das waren doch noch keine fünf Minuten.“ Er richtete seinen Blick abwesend nach vorne, aus der Richtung aus der sie gekommen waren.

»Hier stimmt etwas nicht.«, wisperte Matze, »Pass gut auf dich auf und hüte dich vor der Blutroten Königin!« Die Worte seines Vaters veranlassten ihn dazu, die Augen wieder auf den Gefangenen zu richten. Gefangener. Es ist falsch, falsch falsch falsch! Nichts hiervon war richtig, nur – ließ es sich richtig stellen? Wie eine Uhr, die stehen geblieben war, bei der man nur ein Rädchen neu justieren musste? Es konnte unmöglich so einfach sein! Die Worte des Hutmachers klangen nach Abschied und er war sich nicht sicher, ob er seinen Vater – oder besser gesagt diese groteske, verzerte Version seines Vaters – noch einmal erblicken würde. Cedric nickte jedoch nur langsam, kein weiteres Wort wollte über seine Lippen kommen, schien doch alles eher unangebracht, ehe er sich wieder aufrechtete und langsam, mit all der ihm gegebenen Vorsicht, wieder zum Eingang schlich.

Die Eisentür ließ sich von innen weiterhin problemlos öffnen, eingesperrt wurde er also nicht, nur bezweifelte er stark, dass die derart schwere Vorrichtung von selbst zugefallen war. Nein. Nur wer sonst konnte hierfür die Verantwortung tragen? Cedric schlich weiter, es waren nur wenige Schritte, bis die Silhoutte eines bekannten Frauenkörpers sich in das vor ihm ligende Bild presste: Tara lag am Boden, offenbar bewusstlos. Jegliche Alarmglocken ignorierend lief der Junge zu dem regungslosen Mädchen, kniete sich zu ihr, bemerkte – ein Glück! – ihren schwachen Atem.

Tara? Tara, kannst du mich hören?“, rief er hektisch, wenngleich mit gedämpfter Stimme, denn er wagte es nicht zu viel Lärm von sich zu geben. Ein Wimpernzucken, ein Lebenszeichen, eine weitere Reaktion blieb ihm jedoch verwehrt.

»Offenbar nicht.«, erwiderte eine ihm wohlvertraute Stimme anstelle des Mädchens, »Alice du ungezogenes Ding, du kannst doch nicht einfach kreuz und quer durch das Schloss unserer Majestät herumspazieren wie es dir beliebt!«

Cedric hatte das Gesicht, welches sich vor ihm aufbaute, keine Sekunde seines Lebens vermisst und es jetzt in dieser Welt wiederzusehen, stimmte ihn… wütend. War es Wut? Hass, vielleicht? Verachtung? Eine groteske Mischung ja, eine heiße, brennende Suppe, die sich in seinem Inneren zusammenbraute und drohte überzulaufen, da niemand es für nötig hielt, die Hitze zurückzunehmen.

Dummer, naiver Junge! Es war sinnlos sich ausgerechnet hier seinen überflüssigen Emotionen hinzugeben, zumal ihn Will wie all die anderen Bewohner des Wunderlandes vermutlich gerade zum ersten mal sah. Sein Blick war weder abfällig, noch wiedererkennend, nur abwägend, möglicherweise sogar mit einem Hauch von Neugierde verbunden. Alice, Alice! Warum erkannten sie ihn alle nur als Alice? Was war mit ihm, seinem realen Ich? Cedric würde dies alles nur zu gerne als einen kuriosen, unglaubwürdigen Traum abstempeln, jedoch fühlten sich die Ereignisse hierfür zu leibhaftig, zu schmerzaft an und währten Träume in der Regel nicht um einiges kürzer? Seine einzige Hoffnung bestand im Grunde nur darin, dass es bald enden möge, jetzt wo er der Herzkönigin näher war denn je.

Verzeiht.“, erwiderte Cedric schließlich bemüht höflich und versuchte den Drang zu unterdrücken, Will nicht versehentlich anzukotzen. „Ich habe mich wohl verlaufen.“

Der hob lediglich eine Augenbraue, Zeichen genug, dass er an seinen Worten zweifelte – ein Wunder.

»In die Verliese? Interessant. Nun, wie dem auch sei: Komm mit, du wurdest bereits angekündigt!«

Cedric stand schwerfällig auf, den Herzbuben abwertend im Auge behaltend.

Was ist mit ihr?“, entgegnete er mit einem Fingerzeig auf Tara, „Wir können sie ja nicht einfach da liegen lassen oder?“

Will musterte ihn abfällig, ehe er sich zu einer Antwort herabließ.

»Sie ist eine Verräterin, natürlich können wir. Allerdings werde ich deinem Wunsch selbstnatürlich gerne nachkommen, denn der Befehl unserer Königin lautet, dich nicht unnötig zu verärgern.«

Dann kennt mich die Königin schlecht, allein dein Anblick verärgert mich zur Genüge, dachte er unwillentlich, verdrießlich gar, deutete jedoch ein (mehr oder weniger) dankbares Lächeln an. Will schnippte einmal mit den Fingern, woraufhin vier der Kartenwachen angerannt kamen und den armen Hasen davontrugen – wohin auch immer. Ced sah dem Mädchen besorgt hinterher – ob er den Worten seines verhassten Gegenspielers wirklich Glauben schenken durfte?

»Nun denn Alice – wenn du mir bitte folgen würdest?«

Ein tiefes Seufzen ließ sich nicht unterdrücken. Cedric ergab sich innerlich und folgte dem Herzbuben widerwillig, heraus aus dem Gefangenentrakt, weiter, Gasse um Gasse, Stufe für Stufe, bis das Bild vor ihm nicht mehr heruntergekommen war, sondern mit Prunk prahlte, nun wahrlich ein Anwesen dem einer Königin würdig. Das letzte Tor im Außenbereich wurde durchstritten und der Himmel über ihm verschwand, als er die roten Fließe des Schlossinneren betrat.

Cedric schluckte.

Zeit sich mit Ihrer Majestät zu unterhalten.

 

Der Raum oder besser gesagt der Thronsaal, in dem man ihn führte, war groß, hoch und grässlich mit diversen Herzvertäfelungen verziert. (Gut, im Grunde sah es ganz annehmbar aus, Cedric kam nur mit der für ihn recht kitchigen Herzform nicht wirklich klar). An der Wand entlang standen wieder Spielkarten mit verschiedenen Rängen: 6er, 7er, 8er, 9er, an der Tür flankierten sich zwei 10er. Will schob ihn unsanft durch die eminente (herzförmige) Pforte, hinter der die Rote Königin ihn erwarten würde.

Die Türen fielen zu. Stille. Die Zeiger der unsichtbaren Uhr, die in diesem Land sowieso nicht richtig tickte, spielten verrückt, brachten alles durcheinander, jedes klitzekleine Detail seiner Selbst. Halt nein, alles ging richtig, nur in seinem Kopf drehte sich alles, entgeistert sah er auf die vom Land verhasste Regentin, erwiderte den ausdruckslosen Blick ihrer blauen Augen mit Staunen, mit Entsetzen. Die Verwirrung und die eigene Dummeit schlugen im gekonnten Zusammenspiel auf ihn ein, nahmen ihm die Luft zum Atmen, für einen Augenblick zumindest, ehe sein Körper instinktiv seinen gewohnten Gang ging, ganz gleich welche Gefühle in ihm hochkrochen.

Er hätte es sich natürlich denken können, nein, denken müssen! Wie hatte er es nicht sehen kommen? Es war so einfach, so offensichtlich! Wann hatte er die Fähigkeit verloren zu Denken? So wie es aussah gleich nach seinem Sturz in das vermaledeite Kaninchenloch oder griff er jetzt nach fadenscheinigen Ausreden, um sich das letzte bisschen seines Stolzes zu bewahren? Lachhaft!

Ran.“, Der Name rutschte leise, kaum hörbar über die Lippen des Jungen. Beinahe wäre er in lautes Gelächter verfallen, doch Ced riss sich zusammen, seine Mundwinkel zuckten bloß. Welch ein makabres Spiel, welch surreale Welt! Oh, wer nur wer zog die Fäden auf diesem unheimlichen Brett? Gut, streichen wir dieses kleine, unbedeutende Wörtlein »beinahe«, Cedric verlor jegliche Selbstbeherrschung und lachte, womöglich seiner Hinrichtung entgegen. Denn auch sie würde ihn nicht erkennen, wie es hier keiner tat und stattdessen sein Verhalten als reine Unverfrorenheit abstempeln – die einzige Liebe seines Lebens und für diese war er hier wohl ein völlig Fremder.

Dachte er.

Fehler Nummer eins.

So wäre es plausibel gewesen.

Fehler Nummer zwei.

Oder nicht?

Plausibilität im Wunderland? Wirklich?

Der Blick der Königin entgegnete seinem Verhalten weder vorwurfsvoll noch abwertend noch verwirrt.

In ihren Seelenfenstern war die Angst abzulesen und dieser Anblick schockte Cedric mehr, als er zu glauben gewagt hatte. War es möglich? Warum ängstlich? Befürchtete sie etwa durch seine bloße Anwesenheit eine Revolte, die ihr zum Verhängnis werden könnte? Als ob er ihr je Schaden zufügen könnte – aber das wusste sie wahrscheinlich nicht einmal.

Allerdings wählte die Herzkönigin zu seiner Überraschung ein Wort, ein einzelnes kurzes Wort, dass ihn sofort entwaffnete, ein Wort, dass ein dröhnendes Rauschen in seinen Ohren verursachte, ein Wort, welches die Macht hatte, die Zeit einzufrieren, zu verlangsamen, zu beschleunigen, wie es beliebte.

Sein Name. Sein richtiger Name, ein Name, dessen Klang er beinahe schon vergessen hatte, verklungen in den Weiten dieses wunderlichen Landes.

»Cedric.«, wiederholte sie erneut, leise, der Hauch eines Wortes der die Stille durchbrach. »Aber.. wie kann das sein? Du bist tot, tot! Ich selbst habe deiner Hinrichtung beigewohnt, sie sogar angeordnet! Wie kannst du jetzt hier so vor mir stehen als wäre nie etwas gewesen?!«

Kälte.

Ich freue mich auch dich wiederzusehen.“, erwiderte er schließlich tonlos, die Worte kamen nur brüchig über seine Lippen. Gut, mal angenommen dieses Land hier stellte eine alternative Realität zu seiner Heimat dar, wie zwei Welten die parallel nebeneinanderher liefen, dann war sie nicht seine Ran und er nicht ihr Cedric – denn der war ja offensichtlich tot. Demnach stand der Name Alice für eine Person, die die Fähigkeit besaß, der Parallele beizuwohnen. Vorausgesetzt diese abstruse Theorie stimmte im Ansatz, gab es trotzdem ein klitzekleines Problem: Er könnte ihr nie etwas antun. »Töte die Rote Königin.« Na aber sicher doch. Was blieben ihm sonst für Möglichkeiten übrig? Er konnte natürlich mit komplizierten Erklärungen anfangen, die der Wahrheit entsprachen, aber da diese unglücklicherweise eine (selbst für das Wunderland) derartige Unglaubwürdigkeit umfasste, würde sie womöglich nicht davor zurückschrecken ihn noch ein zweites mal hinzurichten – und was würde passieren wenn er hier starb? Welchen Einfluss würde es- nein. Es war vergebens über derartige Sinnlosigkeiten zu spekulieren. Er durfte sein Ziel nicht vergessen, egal was hier geschah oder auf welche verzerrten Bilder seiner vertrauten Personen er noch treffen würde (gut, wenn man so darüber nachdachte, konnte man das Spiel nicht noch weiter auf die Spitze treiben.) Ein Ausweg. Mehr brauchte er nicht. Nur… wie? Cedric richtete den Blick erneut auf seine Verlobte, sah sie entschlossen an, bemerkte wie falsch sie wirkte, als wäre nichts an ihr echt.

Warum rot?“, begann er aus dem Zusammenhang gerissen, „Blau passt viel besser zu deinen Augen.“

»Kann ich nur zurückgeben.«, erwiderte sie kühl, »Warum trägst du auf einmal rot?«

Um dir zu gefallen.“ Ein gequältes Lächeln.

»Sehr erfreut.« War das Unsicherheit in ihren Augen? »Rot steht für Blut und Tod – ich habe mir die Farbe nicht ausgesucht, sie wurde mir zugewiesen.«, fügte sie leiser hinzu, Traurigkeit zeichnete sich auf ihrem bildhübschen Gesicht ab. Sie war nicht glücklich. Ein Wunder, dass sie überhaupt eine Erklärung gegeben hatte.

Und für die Liebe.“, Die Worte rutschten ihm unwillkürlich über die Lippen, sie mochten der Tatsache entsprechen, doch hätte Cedric sich am liebsten die Zunge dafür abgebissen.

»Die Liebe, natürlich. Die Liebe, die du mir nie erfüllen konntest. Bist du aus dem Reich der Toten zurückgekehrt um dich nun an mir zu rächen?«

Ein gequälter Ausdruck machte sich auf ihm breit. Es schmerzte ihn seine Liebe so zu sehen, wenngleich es sich nur um ein trügerisches Abbild der Wahrheit handeln mochte. Ruhig. Cedric sah sie an, bemühte sich um einen klaren Kopf, um Sachlichkeit.

Bei aller Liebe nein, Rache stand mir nie im Sinn. Als ich hierherkam erkannte mich auch niemand mehr – man sah mich nur noch als Alice.“, versuchte er zu erklären, doch ihre Reaktion war anders als erwartet, heftiger, und das noch ehe er die Dinge wirklich richtig stellen konnte und er fragte sich in dem Moment nur eines: Wusste sie es nicht? Nein, wieso wusste sie es nicht? Sie hat mich doch erwartet?

»Alice!«, Ein erschrockener Ruf, ein Schritt zurück, weg von ihm. »Wenn du Alice bist ist das gleichzusetzen mit meinem Todesurteil! Sie hat dich geschickt, nicht wahr? Meine herzallerliebste Mutter? Was hat sie, was ich nicht habe, warum wird sie geliebt? Selbst du-«

Was, ich? Was willst du sagen?“, unterbrach Cedric sie scharf, ehe ihre Hysterie den Höhepunkt erreichte. „Du hast mich doch im Ungewissen lassen was ist und was nicht und bei aller Liebe Ran ich würde dich niemals, niemals verraten!“

Quälende Stille.

»Beweis es.«, Ein leises Flüstern, kaum vernehmbar, doch so duchdringend, dass es unmöglich war ihn nicht zu erreichen.

»Beweis es mir, richte das Schwert der Könige gegen diese Landsleute, die dir ihre ganze Hoffnung anvertraut haben. Also, wen willst du verraten? Sie… oder mich?«

Cedric sah sie an, erkannte die Herausforderung in ihrem Blick und wie sie förmlich danach lechzte Recht zu bekommen, nein, mehr noch, sie begriff das sie gewinnen würde, egal wie er sich entschied. Entweder ihre Erwartungen wurden erfüllt, denn dann behielt sie ihr verdammtes Recht oder aber sie verlor in dieser Hinsicht, gewann dann jedoch… ihn. Es spielte keine Rolle, wie er sich entscheiden würde, er hatte verloren – oder hatte er das nicht schon von Anfang an?

Ich werde nicht kämpfen.“, erwiderte er dennoch, legte Bestimmtheit in diese vier einfachen Worte, wenngleich er befürchtete, dass er hierbei längst nicht mehr mitzureden hatte.

»Wenn du es nicht tust, werden es tausende von anderen tun.«, erklärte sie still, »Das weiße Heer ist schon auf dem Weg.«

Jegliche Farbe wich aus seinem Gesicht. Ein Heer? Ein ganzes, verfluchtes Heer?! Und ihres dagegen?! Das war Wahnsinn, das war- Krieg. Cedric hatte Mühe einen Würgereiz zu unterdrücken, unweigerlich wandte er den Blick ab, richtete ihn gen Boden, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Ran hingegen ließ sich davon nicht beirren, hatte sie ihm doch längst den Rücken zugedreht, war zum Thron geschritten, über dem ein majestätisches Schwert machtvoll und makellos posierte – besagte Waffe, die für die Bewohner des Wunderlandes einen imensen Wert darstellte.

»Stimmst du einem Zweikampf auf meiner Seite zu, könntest du uns allen ein Gemetzel ersparen.«, fügte sie langsam hinzu, als sie das Schwert entgegennahm, sich ihm wieder zuwandte. »Sei mein Ritter.«

Sei mein Ritter, hallte es in seinen Ohren wider und nun war er es, dem die Angst ins Gesicht geschrieben stand, als er den Blick hob, bang und voller Unsicherheit. Was sollte er tun? Was konnte er überhaupt tun? Weglaufen und nie an sein Ziel kommen. Die Hände in den Schoß legen, abwarten, dem Wunderland und all seinen Beteiligten seinem Schicksal überlassen – nur war er nicht längst auch daran beteiligt? Doch – hatte er nicht geschworen die Rote Königin zu… vernichten? Vernichten. Wie hatte er sich je, je zu so etwas bewegen lassen können? Es war ihm unveständlich. Du bist ein Narr. Ja, das war er. Es war ihm unmöglich den Worten der Weißen Königin Folge zu leisten. Cedric suchte den Blick seiner Herzdame, obwohl er wusste, dass dies nichts ändern würde. Ihre blauen Augen wirkten nun beinahe sanft, so, als war ihr längst klar, dass sie bekam was sie wollte.

Ced verneigte sich, ging in die Knie. „Wie Ihr wünscht, Prinzessin.“ Nur der Hauch von wenigen Worten, wenngleich sie dennoch deutlich vernehmbar waren. Ihm war schlecht, zum kotzen. Er war zum Kotzen. Wie tief konnte ein Mensch noch sinken, wenn der Boden längst erreicht war? Doch ein Blick in ihre Augen und es gab nichts, was er dagegen tun konnte, er war zu einer Puppe geworden, dessen Fäden sie geschickt zog. Dennoch, etwas musste er tun, für die Leute in diesem Land, die er nicht kannte, die ihn nicht kannten, doch ansonsten würde er den Anblick seines eigenen Spiegelbildes nicht länger ertragen. Er richtete den Blick wieder auf das Mädchen, in seiner Position verharrend, „Wenn du mir versprichst, dass du den Anwohnern ihren Frieden lässt.“

Ran sah ihn an, ihr Blick voller Missmut, er hingegen verzog keine Miene. Als sie zu Wort ansetzte, unterbrach er sie um ein weiteres mal: „Schwör es.“, fiel Ced ein, „Auf das Schwert der Könige.“ Kate hatte ihn schwören lassen wollen – nur war es nicht mehr in ihrem Besitz gewesen, was sich wohl als ein Glück herausstellte, denn nie könnte er Ran etwas Schlechtes, nicht seiner und auch nicht dieser. Aus ihren Worten ließ sich zudem heraushören, dass die Völker dieses Landes das Schwert als ein Heiligtum schätzten, würde die Rote Königin auf dieses Relikt schwören, konnte er ihrem Wort glauben schenken.

Sie kniff die Augen zusammen, offenkundig verärgert. »Wie du wünschst. Diesen Gefallen werde ich dir gewähren.« Sie zog das Schwert aus seiner Scheide, hielt es mit der linken Hand, legte die drei mittleren Finger ihrer Rechten auf die todbringende Klinge.

»Ich schwöre.«, begann sie mit fester Stimme, »Das ich, bei meinem Blute, den Bewohnern diesen Landes eine gute Königin sein werde, mich ihnen annehme bei Probleme und Anliegen und sie beschütze, sollte es nötig sein, vorausgesetzt sie akzeptieren mich als ihre rechtmäßige Regentin und du, Alice, gewinnst für mich und bringst mir den Kopf meiner Mutter.«

Ced atmete scharf die Luft ein, als sie ihren Schwur zuende brachte. Wobei – war ihm nicht längst klargewesen, dass die Herzkönigin sich nicht so einfach einen Willen aufdrücken ließ? In dieser Hinsicht war diese Dame seiner Ran wirklich beängstigend ähnlich.

Der Junge unterdrückte ein gequältes Seufzen. Das waren ja fabelhafte Aussichten. Dieses Land nannte sich verdammt nochmal Wunderland, warum sahen die Leute hier nur so gerne Köpfe rollen?

Doch die Worte waren gesprochen und einen besseren Kompromis hätte er wohl kaum erzielen können. Oder? Nun war es sowieso längst zu spät seine Entscheidung zu revidieren. Ran streckte ihm das glorreiche Schwert entgegen, widerwillig nahm er es in seine Hände, die es nur mit großem Zögern ergriffen. Es fühlte sich schlichtweg falsch an eine Waffe zu tragen, sie mit der Absicht zu verwenden, zu töten. Und was machte das aus ihm? Einen Mörder, eiskalt, skrupellos. Es besteht immerhin noch die Hoffnung, dass das Ganze nicht real ist und ich einfach verrückt werde. Hoffnung? Eher eine fadenschenige Ausrede, damit das Schuldbewusstsein ihn nicht schon jetzt erdrückte. Doch war es nicht sowieso weitaus wahrscheinlicher, dass er selbst in den Tod ging, als jemand anderen ebendiesen zu bringen? Er wusst es nicht, konnte er doch nicht einmal nachvollziehen wie er in eine derart missliche Lage gekommen war, mehr noch, konnte er nicht einmal die eigens getroffenen Entscheidungen verstehen. Nur ein großes verzweifeltes »Warum« schwebte unglücksbringend über seinem Kopf, bereit ihn bei der nächstbesten Gelegenheit zu erschlagen.

»Majestät, sie sind da.« Es war Will der dort sprach und die schicksalsbringende Ankündigung machte. Ran setzte ein künstliches Lächeln auf, während alles in ihm schrie und sich dagegen wehrte, einen teuflischen Fehler zu begehen, wenngleich er diesen doch längst begangen hatte.

»Komm.«, lud die Königin ein und klang glücklich, während sie ihm die Ehre erwies. Ced ergriff zögerlich ihren Arm, während er verzweifelt versuchte das Chaos in seinem Kopf zu bändigen. Ein aussichtsloser Kampf, wenngleich die Schlacht noch nichtmal begonnen hatte.

 

Ran gab verschiedene Befehle, wenngleich der Junge keinen von ihnen verstand. Man eskortierte ihn, wohin wusste er nicht, achtete er nicht einmal auf den Weg, der sich vor ihm auftat. Ja, er bemerkte anfangs nicht einmal, dass er neu eingekleidet wurde, hingen seine Gedanken doch noch immer im Thronsaal fest, drehten sich im Kreise, gingen unsinnige Eventualitäten durch, die doch sowieso zu keinem Ziel mehr führten. Wozu dann die Mühe? Er wusste es nicht, konnte es jedoch genauso wenig verhindern. Erst als er vor der roten Rüstung stand, kehrten seine Gedanken ins Jetzt zurück, regungslos blickte er auf die kampfbringende Kleidung, die ihm wohl Schutz bringen sollte. Cedric sah die metallene Schmiedkunst eine Weile lang ruhig an, als erwartete er eine Reaktion oder irgendetwas, wenngleich er nicht wusste was. Eine Reaktion von einer Rüstung? Nun, wenn man die Dinge bedachte, die er in den letzten – wie viel Zeit auch immer verstrichen sein mochte – gesehen hatte, klang das eigentlich gar nicht so abwegig, wenngleich er sich innerlich dennoch gegen die Stirn tippte. Wahnsinn. Ein treffendes Wort. Wunderbar! Hach, und in weiteren Wahnsinn würde er sich sogleich begeben, wenngleich er hoffte, dass es bald ein Ende hatte. Mittlerweile war es ihm sogar egal, wie es endete, hauptsache es hörte auf. Er hielt es nicht länger aus, nichts von dem, nichts von diesem durchgeknallten Ort mit ihren falschen Bewohnern und ihrem Faible für Hass, Krieg und Tod. Verspürte er Heimweh? Eigentlich ein abstruser Gedanke, war seine Heimat doch alles andere als ein warmer Ort der Geborgenheit schenkte. Cedric zuckte mit den Schultern. Egal was es für ihn darstellen mochte – es war sein zu Hause und dem konnte man mit so etwas wie Vernunft begegnen. Manchmal zumindest. Naja, es würde kommen, wie es sollte – oder auch nicht sollte. Hatte er darauf überhaupt noch einen Einfluss? Vermutlich nicht. Cedric gab sich geschlagen und zog die vermaledeite Rüstung über. Ein Glück, dass sich kein Spiegel in diesem Raum befand, ansonsten hätte sein inneres Selbst ihn nur auf ein Neues ausgelacht, es war ja nicht so, als würde er sich nicht schon schlecht genug fühlen. Okay ja, es war lachhaft! Er war kein Kämpfer, war es nie gewesen! Geschweige denn, dass er wusste wie man ein Schwert führte! Was dachten sich die Adeligen des Wunderlandes nur dabei? Sowieso, warum hörten sie einen nie richtig zu? Alice, Alice, immer hörte er nur Alice! Was für ein Schwachsinn! Wahnsinn! Erneut, jawoll! Er könnte es immer und immer wiederholen und es würde nie seinen Effekt verfehlen. Es würde keinen Kampf geben. Man würde ihm den Kopf abschlagen, kaum das er das Feld betreten hatte. Ha! Sollte es ihn nicht eigentlich schockieren, mit welcher Gleichgültigkeit er dem entgegensah? Er suchte nach Vernunft, doch fand noch nicht einmal in sich Selbst eine Prise von ebendem. Erbärmlich!

»Ist der Ritter Unserer Majestät bereit?« Eine gelangweilte Stimme, Cedric drehte sich zum Herzbuben um und musterte ihn ausdruckslos von oben bis unten. »Was ist…?«, erkundigte sich Will sichtlich irritiert, als er näher kam, die Hand zur Faust geballt, bereit zuzuschlagen und sei es nur um sich ein klein wenig Genugtuung zu verschaffen.

Er unterließ es. Es widerte ihn an, überhaupt einen derartigen Gedanken zu hegen. Was ist nur aus mir geworden? Eine bedauernswerte Frage, zweifellos. „Nichts…“, erinnerte er sich noch zu erwidern. Sein Kopf schmerzte aufgrund der unzähligen Dinge, auf die er keine Antwort hatte, und tausendmal so viel, die keinen Sinn ergaben. Langsamen Schrittes bewegte der Junge im Kriegskostüm sich voran, folgte dem Herzbuben traurigen Blickes hinaus aufs Feld.

 

Ein Schachbrett.

Pardon. Ein gigantisches Schachbrett. Mit ebenso gigantischen Spielfiguren. Cedric verstand die Zusammenhänge aufs Neue nicht – bestand das Personal der Herzkönigin nicht allesamt aus Spielkarten? Als ob das noch eine Rolle spielen würde! Tribünen links und rechts und vorne und hinten, gemischt mit zahlreichen bunten Besuchern, vorwiegend dennoch in rot und weiß. Auch der karierte Untergrund war mit weißen und roten Kacheln belegt. Cedric begann langsam eine tiefe Asympathie der beiden Farben zu entwickeln und sehnte sich innerlich nach einem dunklen Blau und Regen. Er seufzte. Was für ein alberner Wunsch!

»Haben sich die Majestäten auf einen Verhandlungsweg geeinigt?« Eine ölige Stimme setzte zu Wort an, wenngleich Cedric ihren Ursprung nicht ausmachen konnte. Er erkannte Kate und Ran jeweils auf einer Seite der Tribühne, einmal zur roten, einmal zur weißen Seite des Schachbrettes. Beide nickten.

»Sehr wohl. Wen schickt die machthabende Seite ins Feld?«

»Alice!«, ertönte Ran’s resolute Stimme. Selbst auf die Entfernung erkannte Cedric ein leichtes Lächeln auf ihren Lippen und er wusste nicht, ob er sich deswegen glücklich schätzen sollte, durfte oder… nicht. Ein Raunen ging durch die Reihen und der Junge sah schon Tomaten auf sich zufliegen, was ihn selbst erstaunte. Immerhin war ihm seine Ironie noch nicht flöten gegangen, anbetrachts der Umstände jedoch, ließ dies den Schluss nahe, dass er vermutlich komplett den Verstand verloren hatte. Was im Grunde nur eine Frage der Zeit gewesen war – hurrah!

»Sehr wohl. Wen schickt die herausfordernde Seite ins Feld?«

Cedric richtete seinen Blick auf die Weiße Königin. Wäre er nicht selbst inmitten der ganzen Turbulenzen, wäre das jetzt wirklich interessant zum zusehen. Sofern, das ganze weniger blutig endete, wie es den Anschein hatte, zumindest…

»Alice‘ Gegenbild!« Kate’s Stimme senkte sich laut über den Platz.

Cedric blinzelte.

Hä? Gegenbild? Würde er jetzt sich selbst bekämpfen oder was? Das wäre ja dann fast schon eine Win/Win Situation, optimistisch betrachtet. Haha, vielleicht hatte sein anderes Ich es ja besser getroffen als dieses hier. Oh, wie makaber!

Tatsächlich betrat ein junger Mann das Feld, blonde Haare, blaue Augen, die Person glich ihm aufs Haar. Cedric stutzte, glaubte er im ersten Moment tatsächlich seinem eigenen Ich gegenüber zu stehen, doch beim Näherkommen der Person, wurde ihm der einfältige Fehler schnell bewusst, ein Blick in die Seelenfenster seines Kontrahenten deckte die Lüge schnell auf.

Simon!“, rief er den Namen seines Bruders und seine Augen weiteten sich vor Schreck. Nicht er. Alles bloß nicht sein Zwilling.

»Cedric.« Die Stimme seines Spiegelbildes klang kalt, abwertend, doch viel mehr als das war es der Name, der Cedric aus der Fassung brachte: sein Name.

»Lasset das Spiel beginnen!« Ein dunkler Trommelschlag ertönte und Simon ließ keine Sekunde auf sich warten, schon erhob er das weiße Schwert mit klarem Ziel. Ihn. Cedric war unfähig einer Handlung, wich lediglich zurück, versuchte der todbringenden Klinge keine Fläche zu bieten.

Hör auf! Lass den Quatsch, wir müssen nicht kämpfen!“ Es war albern, er wusste es, dennoch konnte Ced den eigenen Worten nichts entgegensetzen, kamen sie doch wie von selbst.

»Lass den Quatsch?!«, wiederholte sein Bruder entgeistert, »Du hast dir das selbst zuzuschreiben! Denkst du ich tue das freiwillig? Ich dachte ich seh nicht recht, als mein toter Zwilling wieder vor mir auftaucht, als wäre nichts gewesen! Nur um zu lernen, dass er die Rolle Alice angenommen hatte! Es hieß du würdest die Welt retten und nicht ins Dunkel stürzen! Wie kannst du es wagen uns zu verraten? Für sie?!«

Aber ich liebe sie!“ Es war eine Lüge, er wusste es, in dem Moment, als die Worte seine Lippen verließen. Er liebte Ran. Nicht die Herzkönigin.

»Du bist ein verdammter Idiot!« Ein Brüllen, ein weiterer Schwertstreich, der seine Rüstung rammte, ihm sonst jedoch erstmal keinen Schaden zufügte. Cedric hatte die ganze Zeit nichts getan außer den Angriffen seines Bruders nach Gutdünken auszuweichen, musste jedoch einsehen, das dies auf Dauer keinen Zweck hatte.

Was hätte ich denn machen sollen?!“, Verzweiflung machte sich in ihm breit. Ced riss das Schwert der Könige hoch um einen weiteren Schlag von Simon zu parieren und war erstaunt, wie gut sich die Waffe in seiner Hand bewegte.

»Das was dir aufgetragen wurde!«, erwiderte dieser knirschend.

Sie töten? Ist es das? Seit ihr eigentlich alle verrückt geworden?! Ich kann unmöglich jemanden umbringen!“

»Und darum stehst du jetzt hier?! Das ich nicht lache!«

Du bist es der mich angreift, nicht umgekehrt!“

»Ja, weil ich beende, zu was du nicht in der Lage bist!«

Ich bin dein Bruder, verdammt!“

Simon hielt keuchend inne, sah ihn an, abfällig… mordlustig.

»Bist du nicht.«, flüsterte er leise. Das weiße Schwert erneut, plötzlich, über ihn, nein, in ihm, in seinem Bauch, hatte die Rüstung zerschnitten wie Butter. Bist du nicht. Die Worte hallten in seinem Kopf wider, verletzten ihn viel mehr, als es simple Schmiedekunst je konnte. Aber er hatte ja recht. War nicht er es gewesen, der daran glaubte, die Leute die er traf, waren ihm fremd? Haha, da war es doch nur recht und billig, wenn es ihnen nicht andres erging, oder, Alice?

Cedric fiel auf die Knie, die blutrote Rüstung zerfiel in tausend kleine Scherben, rubinroten Diamanten gleich und er trug Hemd und Jeans, wie anfangs als er noch mit seinem Geschichtsbuch unter einem Baum vor sich hindöste.

Ich will nicht sterben.

Ein einfacher Gedanke, ein verständlicher noch dazu. Cedric sah zu seinem Bruder hoch, das Schwert steckte nach wie vor in seinem Rumpf. Und es hätte sein Gesicht sein können, das ihm entgegenblitzte, ihn entgeistert ansah, blass und unfähig zu begreifen, was er getan hatte.

Ein gequältes Grinsen schlich sich auf die Lippen des jungen Mannes. „Ich. Sterbe. Nicht.“ Ein Beschluss, ein Schwur für sich selbst geschmiedet und es war als hätten die roten und weißen Schachfiguren auf dem grotesken Kampfplast sein Flehen erhört, denn sie erwachten zu Leben, bereit ihn zu verteidigen. Ihn. Der, der es am wenigsten verdient hatte. Aber er war Alice. Hieß das nicht, er hatte jegliche Macht zum Wunderland? Warum diese dann nicht nutzen?

Cedric war unfähig aufzustehen, die Wunde fesselte ihn an den Boden. Ein Wink seiner rechten Hand gab den Charakteren des Schachspieles einen Willen, ein Ziel. Er erkannte seine Umgebung nur noch unscharf, sah jedoch wie Simon mit Entsetzen in seinem Gesicht zurückwich, hörte die Schreie unzähliger Festtagsbesucher. Festtag? Aber ja, waren sie nicht alle gekommen um das Schlachtspiel gebührend zu feiern? Wie wunderbar! Na dann sollten sie auch ein entsprechendes Spektakel zu sehen bekommen!

Schmerz. Cedric verlor das Interesse an seiner Umgebung oder sagen wir eher, hatte nicht mehr die Möglichkeiten sich ebendieser zu widmen. Ein Glück schienen sie ihn nun auch alle endlich vergessen zu haben, nun plötzlich war er ihnen nicht mehr wichtig, ach, war ihnen nicht klar, das höchstens er die Szenerie noch stoppen könnte? Das hieß, wenn er gewollt hätte. Aber er wollte nicht, hatten sie doch auch alle nicht gewollt! Der Junge spuckte Blut, der einfache Körper erreichte sein Limit. Mit zittrigen Händen ergriff er den glorreichen Schaft des weißen Schwertes, wollte die verdammte Waffe aus seinem Leib herausziehen, hoffte idiotischerweise dadurch auf Erlösung. Doch sein Körper gehorchte seinem Willen nicht, stieß die Klinge stattdessen nur noch weiter in das lebendige Fleisch, bis es ihn gänzlich durchdrang.

Regen. Er hatte ihn sich gewünscht. Keinen blutigen, einen echten, mit richtigem Wasser, das vom Himmel fiel. Und das tat es. Dunkle Wolken hatten sich über dem Wunderland aufgezogen, ein Grollen war in der Ferne zu vernehmen. Und es regnete. Als würden die Himmelstränen alles rein waschen was er verursacht hatte, bis auf das letzte bisschen Chaos, dessen Quell in ihm zu verzeichnen war.

Stille. Wo waren sie nur alle hin die Bewohner des wunderlichen Landes, die Leute mit ihren Bitten und Träumen, mit ihren Lügen und Illusionen? Niemand war hier. Warum? Warum, warum, warum? Das war ganz leicht! Gab es doch niem-

 

Hilfe. Cedric schrak hoch, noch ehe er seinen Namen hörte.

Es war kalt, nein, ihm war kalt. Die Sonne war längst untergegangen, es war frisch, der Sommer noch nicht ganz angebrochen. Erstaunt, nein, heillos verwirrt sah er in die blauen Augen seiner Freundin, die ihn überrascht musterten. Ran hatte sich über ihn gebeugt, wohl um ihn zu wecken. Moment, das… setzte voraus, dass er geschlafen hatte. Oder? Cedric blinzelte, sah nach links, nach rechts, versuchte sich zu orientieren.

»Alles in Ordnung?« Ein spitzbübisches Lächeln legte sich auf ihre zarten Lippen und kaum sprach sie, war alles andere für ihn vergessen, irrelevant in seiner Wahrnehmung. „Nein…“, murmelte er ehrlich, erwiderte ihren klaren Blick, in dem er nichts lesen konnte, noch nie diese Fähigkeit besessen hatte, nicht bei ihr.

»So? Das ist aber nicht gut.« Sie runzelte die Stirn, richtete sich schließlich auf.

Wohl kaum…“, gab er zur Antwort, wobei, konnte man es eine Antwort nennen? Jedoch verzogen sich seine Lippen zu einem leichten Lächeln, wen interessierte schon was war oder nicht war, solange sie hier war? Cedric folgte ihr, stand ebenfalls auf, klopfte sich den Dreck von seinen Klamotten und hob das Geschichtsbuch auf. Noch während er sich bückte, fiel ihm ein Kaninchenloch auf und just erinnerte er sich an den schwarzen Hasen, den er auf dieser Wiese beobachtet hatte. Unweigerlich hatte er zu der Zeit an Ran denken müssen und wie dumm er sich jetzt vorkam, nun da die Erinnerung daran in ihm hochkroch. Ein Schmunzeln, albern, lächerlich, doch harmlos.

»Fällt dir etwas ein?«, erkundigte sich Ran fragend, da sie sein Verhalten bemerkt hatte.

Ja.“, erwiderte er schlicht, „Ich mag keine Hasen.“ Mit dieser Antwort drehte er sich zu seiner Freundin und nahm ihre Hand. Sie lächelte sanft.

»Gut.«, meinte sie, »Ich nämlich auch nicht. Komm lass uns nach Hause gehen, es ist kalt.«

Mit diesen Worten zog sie ihn sacht voran, war er noch immer ein wenig schwerfällig von dem Schlummer, in den er sich hatte ziehen lassen. Ein Schlummer ja, ein gefährliches Spiel mit dem Schlaf, doch wie gefährlich, dass ahnte der Junge nicht mehr, verließ er die Wiese nichtsahnend, lediglich mit einem beklemmendem Gefühl im Bauch.

 

Und weit, unendlich weit hiervon entfernt, nahm die Herzkönigin den Schaft des weißen Schwertes in ihre zarten Hände, zog es schließlich aus dem leblosen Körper des jungen Mannes, betrachtete die Leiche mit einem freudlosen Blick. »Oh Liebster.«, murmelte sie leise, wenngleich niemand sie hören konnte, denn keine Seele wandelte mehr auf dem blutgetränkten Feld. »Was für eine plumpe Demission.«