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Dream Two: Genderbend

Cedric wachte auf, hielt die Augen jedoch weiterhin fest geschlossen.

Es war zu früh um aufzustehen, murrte seine innere Stimme, aber das war es ja immer. Dabei gehörte der Junge eigentlich nicht zu den Langschläfern und Morgenmuffeln der Familie.

Etwas irritierte ihn.

Es kennt sicherlich jeder das Gefühl, etwas am Tag stimmt nicht, bevor man sich überhaupt aufgesetzt hatte. Genausi erging es Cedric gerade im Moment, weswegen er die Augen schließlich aufschlug, in er vagen Hoffnung allein dies würde ausreichen um dieses lästige Gefühl zu verscheuchen.

Tat es leider nicht.

Vorsichtig löste er sich von Ran, die neben ihm noch leise vor sich hinschlummerte, dicht in ihre Decke eingehüllt und stand auf. Ein Blick in den Spiegel erklärte all seine angenommenen Unanehmlichkeiten.

Ein entsetztes Gesicht sah ihn an.

 

Das entsetzte Gesicht einer Frau.

 

 

Cedric biss sich auf die weiche Unterlippe. Einfach so loszuschreien oblag ihm nicht, auch wenn er seinen Frust  im Moment am liebsten rausbrüllen würde. Das. War. Nicht. Möglich. Das war nicht möglich. Was war das für ein Hexenwerk im Spiegel, wie konnte das sein? Seine Gesichtszüge wirkten sanfter, er konnte es nicht glauben und hielt vorsichtig eine Hand an seine Wange, fühlte die langen blonden Haare, die Taille und andere weibliche.. Spezialitäten.

Ein metallischer Geschmack machte sich auf seiner Zunge breit, vor lauter Unglauben hatte er gar nicht bemerkt, wie er sich aufgrund des Schrecks die Zunge aufgebissen hatte. Ced wischte sich entnervt das Blut vondannen und versuchte einen kühlen Kopf zu bewahren. Zumindest ließ sich dadurch schonmal feststellen, dass es sich nicht um einen Traum handelte. Na wunderbar. Irgendwelche logischen Schlussfolgerungen im Angebot? Der Junge – Ja der Junge, egal in welchem Körper er gerade stecken sollte, er war ein Kerl – ließ sich schlapp auf den nächstbesten Stuhl nieder. Er wagte es nicht recht zu Ran zu sehen – war sie eine Frau geblieben? Falls dies der Fall war und er so blieb, würden sie damit klarkommen? Wohl kaum, er kam ja selbst nicht im Geringsten damit klar. Stimmt, er hatte die zweite Alternative noch gar nicht durchdacht: Wenn dies kein Traum war, wurde er sicherlich einfach nur verrückt. Gut, damit konnte er eher leben als mit dem hier.

Bevor auch nur ein wirklich vernünftiger Gedanke durchdacht werden konnte, platzte Simon lautstark durch die Tür. Erst sah er geschockt, dann erleichtert aus – Ced konnte nicht verhehlen, dass es ihm anders erging.

„Du also auch!“, entfuhr es Simon offenkundig glücklich über diese Tatsache. Dessen Bruder gab lediglich ein halbstarkes Grunzen als Antwort, was soviel wie eine widerwillige Zustimmung bedeuten sollte.

Simon grinste. „Also Cindy, schon irgendwelche Ideen?“ Ced starrte ihn perplex an. Ihn. Wo sein Bruder auf einmal so.. Gott!

„Cindy? Ist das dein ernst?“

„Von Cinderella! Dein Lieblingsdisneyfilm als wir noch kleine Hoßenscheißer waren. Also ich find die Idee gut.“

„Du.. bist.. argh! Also erstens war mein Favorit die Schöne und das Biest, zweitens war deiner Dornröschen und drittens.. soll ich dich jetzt Sissy nennen?! Oder wie? Aurora wäre ja von Simon etwas weit hergeholt.“

„Nix da. Von Simon gibt es immerhin die perfekte weibliche Abwandlung, häng einfach ein e hintendran. Was man von dir nicht behaupten kann – Cedrice? Ich weiß ja nicht.“

„Cedrine..“, nuschelte Ran und sah die beiden Mädchen mit verschlafenen Augen an. „Das ist franzö- meine Güte wie seht ihr aus?!“ Ran war mit einem mal hellwach, krabbelte aus dem Bett und richtete sich auf.

Die Zwillinge sahen Ran entgeistert an, als sie feststellten, dass sie.. oder er oder was auch immer die Geschwister überragte.

„Okay.. okay.. ich bin raus. Meld dich unbedingt bei mir, wenn ihr ein sagenumwobendes Heilmittel oder was gefunden habt, Cedrine.“ Mit diesen Worten verabschiedete Simone sich wieder und ließ die beiden alleine.

Ein kurzes unangenehmes Schweigen breitete sich aus. Die Situation war zu grotesk, zu abnormal, zu fadenscheinig um tatsächlich real zu sein – und doch schien es so.

Ran sah.. überraschend gut aus beziehungsweise was hieß schon überraschend, sie sah immer gut aus, aber normalerweise nicht aus dieser Sichtweise und so verändert. Ihre Haare waren kurz und wuschelig, das Gesicht etwas kantiger, der weibliche Kram war natürlich weg und was am frustrierendsten war – sie war nun größer als er selbst.

Neben ihr sah er aus wie ein zartes, unbeholfenes kleines Ding, dass es zu beschützen galt und das war das letzte was er wollte.

Ran sah nicht gerade glücklicher drein. Sie bewegte sich vorsichtig, skeptisch, was in ihrem jetzigen Körper ein wenig.. seltsam aussah. Allerdings wollte er sich lieber mal nicht beschweren, wer weiß was er als ‚Frau‘ alles so falschmachte.

„Irgendwelche Lösungsvorschläge?“, meinte er ergeben und durchbrach die quälende Stille zwischen ihnen, in der sie sich gegenseitig argwöhnisch gemustert hatten.

„Ja.. interessanterweise schon.“, gab seine Freundin (wir belassen es mal dabei) zur Antwort, während ihr Blick auf ihrem Handy ruhte. Ced beugte sich neugierig vor.

„Mädelsrunde!“, meinte sie leicht lächelnd und packte das Gerät weg, ehe er auch nur einen Blick auf die SMS lesen konnte.

„Mädelsrunde.. welcher Art?“, erkundigte er sich kritisch, als sie sich wie selbstverständlich einige seiner Klamotten griff. Zugegeben.. ihre würden ihr wohl auch nicht mehr passen. Ced blockierte den Gedanken sofort, sich im Gegenzug Ran’s Klamotten überzuziehen – keine zehn Pferde würden ihn noch weiblicher aussehen lassen, als es sowieso schon der Fall war (und er ungünstigerweise nicht verhindern konnte).

Der Junge griff sich einen beliebigen Pulli und seine alte Jeans, die merkwürdig gerade an ihm herunterhing. Am liebsten hätte er sich auch irgendwie die langen Haare zurückgebunden, allerdings gab es in seiner näheren Umgebung nichts passendes, weswegen er sie offen lassen musste.

„Ced du siehst komisch aus.“, bemerkte Ran beiläufig. Er musste ihr innerlich beistimmen. Zu große Klamotten waren super was Oberteile betraf, allerdings würde die Hose ihm die Hose so sowieso alsbald von den Hüften rutschen, Gürtel hin oder her. Mit einem tiefen Seufzen griff er sich daher die Jeans von Ran, die leider unglaublich gut passte. „Und, zufrieden?“, meinte er missmutig die Arme verschränkend. Ran’s Lippen umspielten ein zustimmendes Lächeln und hauchte ihm zum Start einen Kuss auf die Wange, an dem sich prompt mehrere Dinge seltsam anfühlten. Ich will nicht sagen falsch, aber.. seltsam. Erstens, wie wir bereits festgestellt haben, war Ran auf einmal größer als er selbst, weswegen sie sich zu einem Kuss herunterbeugen musste, anstatt andersrum. Zweitens schlug die Verliebtheit wieder auf, jedoch fühlte sie sich anders sagen, genaueres musste hierzu noch analysiert werden und Drittens: Er wurde rot dabei. Ced hasste es rot zu werden und er tat es schon ewig nicht mehr – bekam dieser weibliche Körper denn gar nichts mehr in den Griff?! Mit einer Mischung aus Missmut, aber auch Verlegenheit schlug Ced die Tür hinter sich zu und folgte Ran zu ihrer Mädelsrunde.

Wehe sie schickten ihn raus, immerhin würde er mit Sicherheit das weibischste Weib im Raum sein.

Oder zumindest das Weib mit der meisten Oberweite.

Nicht das es darauf ankam.

 

Die Tür zum Haus war wie üblich unverschlossen. Zögernd traten die beiden ein und hörten bereits rege Diskussionen, die aus dem allgemeinen Wohnraum hervorgingen. Ran sah ihn noch einmal kurz zögerlich an, ehe sie in die traute Runde platzten.

Schweigen umfing sie, als das Grüppchen die Neuankömmlinge musterte –andersrum ebenfalls. Vermutlich hatten sie sich noch nie so genau gegenseitig begutachtet wie in diesem Moment. Alle waren überraschend deutlich auszumachen: Leila stand mit ihren kurzen männlich-pinken Haaren in der Mitte und hielt die Arme vor der Brust verschränkt, Cylie, die schlichtweg wie ihr Zwillingsbruder aussah saß neben Tara, die bereits hatte versucht aus den neuen Haaren etwas annehmbares zu stylen. Alice hielt sich an Tara’s andere Seite, Sakura war ebenfalls da, interessanterweise hatte sie soetwas wie eine langhaarige Metalfrisur abbekommen, ihre Schwester war nicht mitgekommen (wagte sich mit Sicherheit nur nicht vor die Türe. Eitel!).

„Die Männer hat’s also genauso erwischt.“, brach Cylie das Schweigen und grinste neckisch in die Runde.

„Was hat uns genauso erwischt..?“, ertönte eine gähnende Stimme von der Treppe und Nick kam die Treppe heruntergewatschelt, mit langen Haaren und mindestens zwei Körbchengrößen mehr als er nun besaß.

„Hast du mal in den Spiegel gesehen? Blöde Frage.“, bemerkte Leila und sah ihn skeptisch an.

„Wie.. was?“ Nick sah den Pinkhaarigen irritiert an und es dauerte einen Moment bis die morgendlichen Rädchen bei ihm anfingen sich zu drehen. „Was zum.. wie seht ihr.. was?!“ Er sah auf sich herab. „Scheiße, ich bin ne Frau.“

„Gut, dass wir das jetzt auch geklärt hätten.“, erwiderte Leila erneut.

„Sind die Erwachsenen eigentlich genauso dran?“, erkundigte sich Alice und sah fragend in die Runde.

„Ja.“, gab Sakura – ihre Frisur wirklich in allen Ehren – zur Antwort. „Meine Mom hat sich heute morgen die Augen ausgeheult..“ Sie seufzte und schien bei dem Gedanken daran zu erschaudern.

„Habt ihr sonst noch was in Erfahrung bringen können?“, fragte Ced, während Ran sich einen Stuhl zog.

„Ne, wie denn? Du wachst morgens auf und musst feststellen, dass deine hübschen lange Haare weg sind und dir stattdessen was zwischen den Beinen hängt. Nicht unbedingt das was ich mir vom Tag erhofft hatte.“

Die anderen bedachten Leila mit einem genervten Blick.

„Was denn? Ist doch wahr.“, versuche sie sich zu rechtfertigen. Tara verdrehte die Augen und grinste ihrer Freundin verschwörerisch zu.

Gott, dieses ganze Bild war so dermaßen verstörend.

„Naja, es gibt da schon etwas.“, begann Cylie in einem konspirativen Tonfall, „Meine Mom hat mir da mal was erzählt. Im Wald gibt es doch dieses alte Hexenhaus, nicht wahr? Mittlerweile so verwachsen, dass man es  kaum noch zu sehen und noch schwerer zu erreichen ist. Angeblich ist die dort lebende Hexe verschwunden als ich noch klein war, aber wer weiß..?“

„Cylie, wir haben hier ein ernsthaftes Problem und keine Zeit für irgendwelche Märchen!“

Diesmal war es Leila die genervt die Augen verdrehte. „Allerdings ist es beesser als nichts.“, warf Sakura ein, welche jedoch – wie Ced wusste – sowieso auf alle möglichen Gruselgeschichten stand.
„Gehen wir also auf Hexenjagd!“ Alice war bereits aufgesprungen und zog Tara mit sich. Sakura versuchte ihr Strahlen zu verbergen, was jedoch nicht sonderlich gelang.
„A-Also.. i-ich für meinen Teil..“, begann Cylie zögerlich, wurde jedoch von Tara unterbrochen. “Nichts da Cylie, immerhin war es deine Idee!“
„Komm schon, das wird sicher lustig!“, Ced revidierte: Sakura versuchte nichtmal ihre Begeisterung zu unterdrücken. Seufzend sah der weibliche Junge zu seiner Freundin, welche nur ergeben mit den Schultern zuckte und ebenfalls aufstand.

Na das konnte ja heiter werden.

 

Leila hatte sie alle für verrückt erklärt und war wütend die Treppe nach oben gestapft, Nick folgte ihr nur wenige Augenblicke mit der felsenfesten Überzeugung, dies sei alles ein Traum, wobei er sich für eine Frau bereits außerordentlich gut bewegte.

Was man von ihm selbst angeblich nicht behaupten könnte, zumindest meckerte Alice an seiner Gangart und Tara fügte hinzu, er solle wenigstens damit anfangen mal die Hüften zu bewegen.

Einen Teufel würde er tun und das ganze führte dazu, dass Ran und er das Schlusslicht der kleinen komischen Truppe bildeten, während Sakura mit Feuereifer voranging und Cylie mit allen möglichen Verschwörungstheorien volllaberte, die davon nicht allzubegeistert schien. Wahrscheinlich bereuhte sie es bereits zutiefst, das Thema in die Runde geworfen zu haben.

Am schlimmsten für Ced waren wohl eindeutig Alice und Tara, die die ganze Zeit tuschelten und kicherten als gäbe es keinen Morgen, was an sich ja nicht so schlimm wäre, allerdings dadurch dass sie ja Männer waren.. jedenfalls so aussahen.. wirkte es ganz einfach.. nein. Womöglich wäre es das Beste gewesen, er hätte sich mit Ran einfach abgezweigt, es hätte sowieso keiner bemerkt. Allerdings traute er den „Mädels“ einfach nicht zu, alleine etwas brauchbares herauszufinden, wobei dies so oder so eher unwahrscheinlich war, immerhin – Gott brachen sie gerade ernsthaft zu einem Hexenhaus auf? Sie mussten wirklich verzweifelt sein. Ced sah auf sich herab. Nein, sie waren wirklich verzweifelt.

 

Die Baumkronen waren im Sommer so dicht, dass kaum die Sonne durchschien, was dem ganze an einem Tag wie heute keinen friedlichen sondern einen gruseligen Touch verlieh. Keiner wusste so recht wo sich das geheimnisumwobene Gemäuer genau befinden sollte, den Legenden zufolge konnten sich Hexenprinzessin und Erntegöttin jedoch – gelinde ausgedrückt – nicht recht leiden, weswegen die Gruppe schlichtweg den entgegengesetzten Weg zum See einschlug, der (wer hätte es auch anders erwartet) offensichtlich kaum begangen wurde.

Man spürte das Schloss in seiner Nähe, noch bevor man es sah. Das alte Gebäude ragte tatsächlich hoch inmitten der dichten Bäume hervor, ein weit geworfener Schatten hüllte sie alle ein. Ced konnte sich nicht vorstellen, dass hier noch irgendjemand lebte: Die Mauern waren von Efeu verwachsen, Ziegel lösten sich aus dem Gestein, viele der Fenster waren eingeschlagen. Vermutlich hatten schon viele Kinder und Teenager versucht dort Mutproben oder anderweitigen Schabernack anzurichten. Kritisch bedachte Ced das Bauwerk, etwas stimmte nicht oder bildete er sich das bloß ein? Kam seine weibliche Intuition zutage?

„Ced?“ Ran’s Stimme drang zu ihm durch, im Gegensatz zu ihren Teammitgliedern hatten die beiden den Weg eher schweigend hinter sich gebracht. Der Junge drehte sich zu ihr um, wobei es ihn jedesmal wieder passierte, dass er nach unten sah, anstatt nach oben. Das er auf einmal um ein gutes Stück kleiner war als seine Freundin.. hoffentlich würde er sich daran nicht gewöhnen müssen, bis jetzt hielt er sich nämlich in der Hinsicht nicht besonders gut.

Ran sah aus als wollte sie noch etwas hinzufügen, eine Floskel wie ‚Alles okay?‘, wobei die Frage ja hinfällig wurde, daher betraten sie schweigend das baufällige Gebäude. Auch die anderen Vier waren mittlerweile verstummt, weswegen das Knarzen der Tür unnatürlich laut nach draußen klang.

Finsternis umhüllte sie, ehe sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten.

„Es hat nicht zufällig jemand eine Taschenlampe dabei?“, erkundigte Alice sich beiläufig, während sie sich umsahen. Die große Eingangshalle wurde so wie’s aussah bereits seit Jahrzehnten nicht mehr geputzt. Tara bekam vom Staub erstmal einen Niesanfall.

„H-H-Haltet ihr d-das wirklich.. für eine g-gute Idee?“ Cylie war schon fast wieder aus der Tür heraus, doch Sakura hielt sie auf.

„Am besten wir teilen uns in Zweiergruppen auf.“, schlug Ran vor, „Größere Gewinnchancen. Außerdem sind wir dann vermutlich schneller wieder hier raus.“, fügte sie mit einem Blick auf Cylie hinzu, die entsetzt die Augen aufriss – vor allem als sie realisierte, dass sie wohl Sakura als Kameradin abbekommen würde.

Keiner erhob Einwände, auch Cylie nicht, allerdings machte auch keiner Vorschläge wer wohinwollte, weswegen Ran etwas barsch bestimmte: „Tara, Alice geht nach links, Sake, Cylie ihr könnt euch oben mal umsehen und wir-,“ Ran sah auf ihn herab und lächelte, anscheinend gefiel ihr die neue Rollenverteilung besser als andersrum. Das Schlimmste war auch noch, dass Ced nicht verhehlen konnte, wie attraktiv Ran auch als Kerl auf ihn wirkte. Oh Gott, gewann seine Frauenhälfte bereits überhand?! „Nehmen uns mal den rechten Flügel vor.“, beendete sie ihren Satz, ehe sie ihn mit sich zog.

Ced seufzte: Dann war die Hexenjagd wohl offiziell eröffnet.

 

Die beiden traten prompt in den interessantesten Raum der gesamten Gruselvilla: Der Küche. Mal abgesehen vom Ungeziefer und der höllischen Unordnung, gab es eine Tatsache, die Ced störte: Sie sah benutzt aus. Das Obst in der Schale war nicht verrotet, das Ablaufdatum sämtlicher Süßigkeiten (die hier haufenweise rumlagen) noch gültig, im Allgemeinen schienen die Lebensmittel noch mehr oder weniger genießbar zu sein und der Staub hielt sich (mal abgesehen von dem auf den Schränken) wirklich in Grenzen. Sei es nicht, weil hier häufig geputzt wurde, aber zumindest schien sich hier ab und an jemand drin aufzuhalten. Ced sah fragend zu Ran, doch er sah ihr an, dass sie zu dem selben Schluss gekommen war.

„Dann wissen wir jetzt also schonmal, dass hier tatsächlich noch jemand zu leben scheint.“ Und sei es auch nur ein alter Penner im Wald, wer weiß?

„Suchen wir weiter.“, meinte Ran und zog ihn mit sich. Da die Küche keine weiteren Ausgänge hatte, außer einen nach draußen, gingen sie zurück in die Eingangshalle und von dort aus geradeaus nach hinten durch. Ein riesiger Ballsaal empfing die beiden, der wohl in einer ganz anderen Ära für etwaige Feierlichkeiten diente. Heute drang jedoch nichtmal mehr richtig Tageslicht durch die verdreckten Fenster und Spinnenweben zierten die Kronleuchter, anstatt der Kerzen wie es eigentlich sein sollte. Im Grunde ein Jammer solch eine Schönheit über die Jahre verkommen zu lassen.

„Sowas in einem Hexenhaus.. nicht sonderlich gruselig, oder?“, murmelte Ran, während sie sich zu beiden Seiten umsah. Ced hörte ihre Bemerkung nur am Rande, ein altes Klavier hatte seine Aufmerksamkeit erweckt und schrie förmlich danach, beachtet zu werden.

„Oh nein Ced.“ Ran stöhnte, ehe sie ihm folgte. „Du weißt, dass wir dafür keine Zeit haben?“

„Mmh.“ Seine Antwort fiel eher rar aus. Vorsichtig strich der Teenager mit den Fingern über die verstaubten Tasten, ehe er sanft eine ausprobierte. Wider erwarten hallte ein tiefes A im Ballsaal wieder. „Es funktioniert noch!“, meinte er daher begeistert und vergaß beinahe warum sie eigentlich hergekommen waren. Ein solch schönes Instrument stand hier einfach herum, verstaubt, vergessen – im richtigen Zustand würde die Klangweite alles auf was er bisher gespielt hatte übertreffen. Kurzerhand setzte er sich auf den Hocker und testete eine kurze Melodie an. Ran sah ihn erst noch tadelnd an, schloss dann jedoch die Augen und hörte zu.

„Ich liebe es wie du spielst.“, meinte sie leise. Ced ließ vom Flügel ab und wandte sich ihr zu. „Ich hoffe das ist nicht das einzige, was du an mir liebst.“, erwiderte er neckend, ehe er sie zu sich zog. „Idiot…“, brachte sie gerade noch hervor, ehe er ihr mit einem Kuss die Worte abschnitt.

Es war seltsam. Nicht im Sinne von schlecht-seltsam, sondern einfach.. seltsam. Der Kuss schmeckte anders, sie schmeckte anders, fühlte sich anders an. Ihr Gesicht war markanter, seines weicher, es gab keine langen Haare mit denen er spielen konnte, stattdessen durchwuschelte sie die seinen gekonnt. Falls man bei einem Kuss von Geben und Nehmen redete, führte sie eindeutig, zog ihn näher an sich heran und er fühlte sich ihr beinahe schon ausgeliefert, was ihm schlichtweg noch nie passiert war. Es war neu, frisch, anders aber verdammt er liebte sie selbstverständlich auch in dieser Grotesksituation.

Ihr Kuss wurde jäh unterbrochen als ein tiefer Schrei durch das Gemäuer hallte. Ced löste sich etwas entgeistert und kam sich im nächsten Moment furchtbar albern vor, wahrscheinlich hatte Sakura Cylie lediglich einen Schrecken eingejagt.

„Wir sollten trotzdem mal nachsehen.“, schlug Ran seufzend vor, als hätte sie seine Gedanken erraten. Leise machten die beiden sich auf den Weg nach oben, in der sich eine gewaltige Bibliothek befand. Dort fanden die beiden eine merkwürdige aufgewühlte Sakura wieder.

„Was ist passiert?“, Ran stellte stirnrunzelnd die essenziell notwendige Frage.

„S-S-Sie ist.. verschwunden. Vor meinen Augen.“, war die nicht sonderlich befriedigende Antwort.

„Sakura, nichts für ungut, aber das ist einfach nur alb-,“ Ced wurde von einem weiteren Schrei unterbrochen, der diesmal von unten kam. Ohne groß darüber nachzudenken, rannte Ced los, die Worte die Ran ihm hinterherrief erreichten ihn bereits nicht mehr.

Tara und Alice hatten sich wohl ausgiebig in einem Salon umgesehen, jedoch waren beide nicht aufzufinden. Ced nahm mit den Augen jedes noch so kleine Detail war doch nichts gab einen Hinweis auf die beiden.

Keine Chance.

Haareraufend (ging bei langen Haaren echt gut) verließ er den Salon wieder und blieb erneut in der Eingangshalle stehen, als er von unten Stimmengewirr hörte. Gut, Gewirr war vielleicht übertrieben, aber zumindest redeten zwei miteinander und es waren nicht die tiefen Stimmen der beiden Tratschtanten. Die Stirn in Falten gelegt, näherte Ced sich der angelehnten Tür, die ihn den Keller führte. Super, ein Keller in einem Gruselhaus, was gab es besseres. Seufzend ergab der Junge sich seinem Schicksal und schlich leise die morschen Treppen hinunter (wobei er schnell merkte, dass er sich die Schleicherei hätte sparen können, das Holz knarzte beleidigend laut.)

Das leise Getuschel zweier Mädchen drang in seine Ohren, allerdings verstand er blöderweise kein Wort, weswegen Ced sich kurzerhand entschied einfach quer in die Unterhaltung einzusteigen. Die beiden verstummten, waren.. ja, tatsächlich noch Kinder. Moment.

„Noita?“, begann Ced perplex und sah das schwarzhaarige Mädchen an, die vor ihrem Eintopf brütete mit einem Buch und einem Holzstock in der Hand. „Darf ich.. äh.. dich fragen, was du da machst?“ Das blonde Ding daneben ignorierte er erstmal.

Noita sah – gelinde ausgedrückt – erschrocken aus und sah ihn daher einfach nur entsetzt an, während ihre Freundin ihm wohl irgendwas sagen wollte, allerdings hörte er gerade mal den letzten Teil: „… also verschwinde!!“

„Verschwinden? Was, warum?“, erkundigte er sich unschuldig.

Das Blondchen stampfte wütend mit ihrem Fuß. „Hab ich doch gerade gesagt!“

„Sorry, hab nicht zugehört. Was macht ihr hier, was soll das ganze?“ Er sah fragend zu der Schwarzhaarigen, von der er sich mehr erhoffte. Stattdessen legte die andere wieder los mit ihrem Gezeter, gut das Noita nun auch endlich mal was sagte.

„Majo, sei mal still, das.. ist ein.. Freund.“, meinte sie zögerlich, „Ced, du bist es doch, oder? Oh Gott was hab ich nur angerichtet.“ Noita war den Tränen nahe, weswegen der Junge prompt ein schlechtes Gewissen bekam, was ihn nichtsdestotrotz nicht sonderlich schlauer machte.

„Ich hab dir doch gesagt, wir kriegen das wieder hin!“, sagte Majo, so hieß sie wohl zuversichtlich, ehe sie wieder begann ihn anzufunkeln.  Von oben drang erneut Lärm, anscheinend hatten Ran und Sakura aufgehört zu warten.

„Warte, ich lass sie nur schnell verschwinden dann bin ich wieder da. Und hör ja nicht auf sein Gefasel rein, hörst du?“ Verschwinden lassen?! Im letzten Augenblick griff der Junge nach den Klamotten der Kleinen und hielt sie auf. „Was.. wohin sind die anderen verschwunden?“

„Nur dahin wo sie hingehören! Zurück ins Dorf, ich schwör’s!“ Mit diesen Worten riss sie sich los und lief nach oben.

Ced drehte sich wieder zu Noita und sah sie verzweifelt an. Seine Irritation war in einem Maße angestiegen, dass er es nichtmal mehr fertig brachte, die richtigen Fragen in der richtigen Reihenfolge zu stellen, denn – ganz ehrlich – wo zum Geier sollte er da beginnen?!

Ced atmete einmal ruhig aus, ehe er mit einer leichten Feststellung anfing: „Du bist ein Mädchen.“

Noita lächelte leicht. „Richtig. Und du bist ein Junge, auch wenn du momentan vielleicht nicht danach aussiehst und daran bin allein ich Schuld.“ Sie seufzte. „Ehrlich, ich wollte nur.. zur Abwechslung mal.. ein wenig üben, in Ordnung? Ich hab wohl einfach kein Talent für’s Zaubern.“

Ced setzte sich auf einen Stapel verstaubter Bücher. „Du.. bist eine Hexe, sehe ich das richtig?“

Noita nickte beschämt.

Der Teenager fuhr sich durch die Haare – das war.. schräg. Obwohl, im Grunde ja nicht schräger als der bisherige Tag.

„Woher wusstet ihr was mit den Dorfbewohnern passiert war?“, erkundigte er sich fragend.

„Der Siebte Sinn einer Hexe.“, erwiderte Noita verschmitzt, „Außerdem.. äh.. also meine Mom hatte noch eine Wahrsagerkugel, von dem her..“

„Stalker.“, meinte er leicht tadelnd, ehe er wieder ernst wurde. „Was hat deine kleine Freundin mit den anderen angestellt?“

„Majo ist meine Cousine.“, erklärte Noita, während sie nebenbei weiter an ihrem komischen Zaubertrank braute. „Und weitaus talentierter als ich.“, fügte sie ohne Enttäuschung hinzu, „Sie hat sie nur an einen anderen Ort versetzt, ehrlich. Majo kann das, hat sie mit mir tausendmal gemacht. Immer wenn ich bei Versteckspielen suchen musste und ich nah dran war, hat sie mich woanders hinbefördert, damit sie sich neu verstecken konnte. Eigentlich unfair.“, bemerkte sie am Ende noch, als wäre ihr die Tatsache darüber erst jetzt gekommen.

Cedric atmete beruhigt aus – wenn Noita das sagte, würde es schon stimmen und den Mädels ging es soweit gut.

„Sagmal was machst du da eigentlich?“ Der Junge stand auf und beugte sich über den brodelnden Kessel.

„Weg da Ced! Ich arbeite!“, meinte sie hektisch und kuschte ihn wieder einen Schritt weg.

„Darf ich bemerken, dass du nicht wirklich wie eine Hexe aussieht? Wo bleiben Umhang, Hut und Warzen?“

„Warzen?“ Noita schüttelte sich. „Was hast du denn für ein Bild von uns! Außerdem, echt ma – Hüte sind doch mal mega out und der Umhang würde mir nur im Weg umgehen.“

„Okay, hast gewonnen.“ Er betrachtete weiterhin skeptisch das Gebräu, „Du bist sicher, dass das funktionieren wird? Wie wollt ihr das den Leuten überhaupt verabreichen? Nimm’s mir nicht übel, aber.. es sieht nicht besonders vertrauenserweckend aus.“

Noita unterbrach ihre Arbeit kurz um sich zu empören: „Hey, ich hab gesagt im Zaubern bin ich schlecht nicht in Tränkebrauen. Und wir verabreichen es ihnen gar nicht direkt.“ Sie grinste verschmitzt, „Wir lassen ihn regnen.“ Ohne dies näher zu erklären, fuhr sie fort und fügte weiterhin dubios aussehende Zutaten hinzu, allerdings mit einer Selbstsicherheit die den Jungen nicht an ihrer Fähigkeiten zweifeln ließen.

Nach einer Weile kam die kleine Blondine zurück und verkündete, dass die Eindringlinge erfolgreich beseitigt worden seien. Ced verkniff sich den Kommentar, dass das Mädchen unbedingt an ihrer Wortwahl feilen musste um in Zukunft Missverständnisse zu vermeiden.

„Wie weit bist du?“, fragte sie stattdessen, als Noita gerade von dem Kessel zurücktrat.

„Fertig. Hoffe ich.“

„Echt? BOMBE!“

„Was ist wenn er nicht funktioniert?“, gab die Schwarzhaarige zu bedenken.

„Naja, wir könnten ihn ja testen lassen.“, erwiderte Majo und lächelte Cedric zuckersüß an.

„Was?“, meinte er perplex, „Was?!

„Also, schlecht wäre es nicht.“, gestand sie ein und schöpfte ein wenig in eine kleine, kristallklare Phiole. „Sollte ausreichen.“

Ced schluckte und hielt sich die Phiole klar vor Augen. Der Trank hatte am Ende ein klares violett angenommen, kurz wandte er den Blick ab in einen zerbrochenen alten Spiegel, indem sein momentaner weiblicher Körper zu sehen war.

„Gut.“, meinte er daher, „Ich vertraue dir.“

Mit diesen Worten schluckte er das Gegengift und bereute es sofort zutiefst.

Sein gesamter Körper rebellierte gegen das Mittel, er hustete als hätte sein Gehirn instinktiv den Befehl gegeben, die Flüssigkeit wieder von sich zu geben, allerdings war es dafür nun zu spät. Glücklicherweise ergab er sich nicht, stattdessen tanzten bunte Flecken vor seinen Augen und er verlor das Gleichgewicht. Der schwache Versuch sich an etwas festzuhalten scheiterte, weswegen er gleich noch einen Stapel Bücher mitriss. Am Rande bemerkte er noch, wie sich sein Äußeres veränderte, zur Normalität zurückkehrte. Dann hüllte die Finsternis ihn ein und er war nur froh darüber, dass Ran nicht dasselbe Schicksal erleiden musste.

 

Der Schmerz ließ ihn beinahe erbrechen, als er das nächste mal aufwachte und Ced fragte sich, wann er sich jemals so die Kante gegeben hatte.