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Dream Three: Eiswind 5/8

Leise fiel die Tür der UnzumutBar hinter ihm zu.

Endlich.

Stille.

 

Cedric zog den Schal enger um sich, sein Atem hing klirrend in der kalten Luft. Es war tiefster Winter in der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr, in dem sich die meisten Menschen ein wenig Ruhe gönnten. Oder eben wie sonst Feiern gingen, die Bar schien einen neuen Besucherrekord anzustreben. Lärm, Enge und Alkoholgeruch – kein Wunder das er es nicht lange dort ausgehalten hatte. Was hatte ihn nochmal dazu bewegt hierherzukommen? Achja stimmt, soziale Kontakte. Aber diese schienen nur halb so bedeutungsvoll zu sein, wenn die wichtigste Person im Kreis fehlte: seine Freundin, Ran, die nicht mit nach Riverport gezogen war. Der Gedanke daran ließ sein Herz schwer werden. Der Junge überlegte kurz, welche Richtung er einschlagen sollte, setzte sich dann in Bewegung. Das Ziel war unwichtig.

 

Cedric sah erst wieder auf, als ihn die ersten Bäume umgaben. Richtig, er erinnerte sich daran, dass ein Wald am Stadtrand verzeichnet war. Das war gut, sehr gut sogar. Ein Punkt der Idylle inmitten des Trubels der Stadt. Er lief einige Meter, wollte die Kälte vertreiben, die sich langsam in ihm breit machte. Kalter Wind schlug ihm ins Gesicht, als im nächsten Moment ein dichter Nebel aufzog. Die Sterne der Nacht waren nicht mehr zu erkennen, und jetzt? Warten, Weitergehen?

Cedric entschloss sich zu warten. Die Schneeschicht auf dem Waldboden war dünn, weswegen der Junge sich hinsetzte. Es gab keinen Zeitdruck und er hatte keine Lust sich im Nebel zu verlaufen. Fünf Minuten. Zehn. Fünfzehn. Was bildete er sich eigentlich ein, das die Sicht sofort wieder klar werden würde? Nun, warum nicht, wenn immerhin war der Dunst auch mit einem Mal aufgestiegen.

Wobei – das war seltsam. Entstand Nebel nicht aus wassergesättigter Luft, die ihren Taupunkt erreicht? Es war Ende Dezember, die Luft so kalt und trocken, das man fürchten musste sie brach. Oder galten an einem Ort wie diesen andere Naturgesetze? Weswegen?

Er stand auf. So hatte das keinen Sinn und auf Frostbeulen war er auch nicht besonders scharf. Vorsichtig ging er ein paar Schritte aus der Richtung aus der er vermeintlich gekommen war. Nach einer Weile verzog sich der Nebeldunst tatsächlich – dafür bot sich ihm ein ganz anderes Bild.

Ein See dessen Ende von hier aus nicht zu erblicken war. Zugefroren, spiegelglatt und so kristallklar, dass die Sterne des Himmels sich darin spiegelten. Lediglich durchbrochen von vereinzelten, vereisten Bäumen, die in die Höhe ragten. Cedric atmete langsam aus, eine Atemwolke verschleierte kurz seinen Blick. Es fühlte sich nicht real an, was er hier sah und doch musste es sein, denn andernseits würde er träumen. Doch für einen Traum spürte er die Kälte viel zu sehr. Er ging ein paar Schritte näher ran, wollte an das Ufer, als etwas anderes seine Aufmerksamkeit erregte. An einem der Bäume am Rand des Sees hatte jemand einen Zettel hinterlassen, als wäre er eine Einladung. Es schien hier gar nicht reinzupassen, gar zu stören. Stirnrunzelnd trat der Junge näher. Eine Nachricht war zu lesen, der Inhalt wie folgt: »Ein Wrack ist ein Ort an dem ein Schatz schlummert. Deinen Schatz habe ich dir genommen.« Was für ein Unsinn. Wer sollte so etwas hier anbringen? Für ihn? Nein. Niemand konnte wissen, dass er sich zu einem nächtlichen Spaziergang her begeben würde – er selbst hatte es am allerwenigsten vorgehabt. Im Licht des Mondes ließ sich eine zweite Nachricht erkennen. Cedric drehte den vergilbten Zettel um. »Sieben weitere Notizen sollst du finden. Ansonsten fände sie es wohl sehr bedauerlich. Ihre Zähren sind wunderbar süß.«

Cedric blinzelte. Das Papier war ihm aus der Hand gefallen, segelte langsam zu Boden. Ran. Nein, unmöglich. Sie war zurück geblieben in Destiny Valley, sicher, behütet. Oder? War das alles nur eine Farce? Hatte sie längst nach ihm verlangt, ihn gebraucht und ihm war es nicht klar gewesen?! Ein abgekartetes Spiel? Ruhig. Seine Gedanken waren unüberlegt, überschlugen sich in Hektik… und Angst. Denk nach. Sollte er sich einfach darauf einlassen? Was war die Alternative? Machte er sich gerade verrückt wegen eines blöden Scherzes?

Er hatte keine Ahnung.

Daher handelte er einfach, wie eine Marionette, die an den Fäden gezogen wurde. Tun nicht denken. Dazu wurde man heutzutage doch sowieso erzogen. Langsam hob Cedric den fallen gelassenen Zettel auf, dann rannte er los.

Er mied den See. Es gab keinen Grund hierfür, aber sich jetzt auf das Eis zu wagen, erschien ihm als unklug. Stattdessen lief er am Rande des Ufers entlang, hoffte auf etwas zu finden, dass ihm ins Auge stach – und tatsächlich, nach einer Weile traf er auf die Überreste eines Gemäuers, das wohl lange schon in seinen Ursprungszustand zurückversetzt wurde. Lediglich alte Steine waren noch zu finden, geschwärzt vom Feuer, womöglich. Auch die zweite Nachricht schien nicht sonderlich gut versteckt, sie klemmte zwischen zwei der Mauersteine und lautete wie folgt: »DON’T LOOK OR IT TAKES YOU« Etwas knackste hinter ihm. Ein Ast? Instinktiv drehte Cedric sich um und missachtete sofort den Hinweis, den er soeben erhalten hatte.

Doch nichts war zu sehen.

Ihm fröstelte, er war eindeutig nicht allein. Jemand – Etwas – war hier.

Weiter. Cedric richtete sich auf und hastete von der Ruine, dem Wrack des Überbliebenen, davon. Wohin jetzt? Wo könnte es weiter gehen? Die nächste Nachricht sein?

Es war nicht schwer. Der nächste Zettel befand sich mit Steinen befestigt auf einem abgeschlagenen Baumstumpf, einfach da liegend. Als würde man sich gar keine Mühe machen sie zu verstecken, als wollte man förmlich das er sie fand. Wer auch immer an den Fäden dieses Spieles hier ziehen mochte. Die  Nachricht diesmal zeigte eine Zeichnung. Zwischen den Bäumen war ein Mensch zu erkennen, hünenhaft, mit unnatürlich langen Armen. Ein Gesicht war nicht zu erkennen.

Cedric drehte sich um, hatte das Gefühl dieses Wesen stünde direkt hinter ihm. Nichts. Er sah wieder in seine Richtung. Unsinn. Einen solchen Menschen kann es nicht geben. Ihm war kalt, obwohl er rannte. Weiterrannte, er hatte erst drei Zettel. Wie viel waren benötigt, acht? Es war nicht genug! Doch obwohl er lief, hatte er das Gefühl es würde immer kälter werden, mit jedem weiteren Schritt den er tat, mit jeder Nachricht, die er fand. Außerdem jagte ihn etwas, er spürte es, jede Faser in seinem Körper war zum Zerreißen gespannt. Er drehte sich wieder um, musste sich vergewissern, dass nichts direkt hinter ihm war.

Er wünschte er hätte es nicht getan, den Rat befolgt. Denn zwischen den Bäumen stand tatsächlich das Wesen aus der Zeichnung die dem Stift eines Kindergartenkindes entsprungen sein mochte.

Scheiße.

Er vergaß die Kälte die ihm ins Gesicht schlug, vergaß wie es hierzu gekommen war, vergaß die Welt um sich herum. Stolperte über den vierten Zettel, bzw. über die Wurzel in die dieser gepinnt war. Las den Hinweis gar nicht richtig. »VERFOLGT.« Oder etwas in der Richtung müsste drauf zu sehen sein. Bedeutungslos. Das war ihm auch so klar. Die Sicht verschlechterte sich langsam aber stetig wieder, zog der mysteriöse Nebel erneut auf, war dieses Etwas die Ursache dafür gewesen? Oder übertrieb er jetzt maßlos, suchte Erklärungen wo keine waren?

Dafür war später Zeit. Cedric schlitterte auf das Eis, ein fünfter Zettel war an eine der Eisbäume gepinnt worden. Als er weiterlief, rutschte er auf der glatten Oberfläche aus, was ihn einige Meter weiter in die Mitte beförderte, ehe er schließlich zum Stillstand kam.

Unter sich, unter der Eisfläche steckte ein Mädchen.

Es war nicht Ran.

Es war Noita.

Cedric erstarrte kurz, steckte fest zwischen den Gefügen der Zeit. Sein Verstand stand still, er wusste nicht was zu tun war. Ihm war klar, dass sein Verfolger näher kam, sich vom Eis nicht aufhalten lassen würde, dennoch… es war unmöglich.

„NOITAA!!“, brüllte er schließlich und klopfte wie wild auf die Oberfläche des Sees, die nicht daran dachte aufzubrechen. „NOOOIIIITAAAA!!!“ Scheiße.

Hektisch sah er sich um, es musste etwas geben, womit er das Eis an dieser Stelle brechen konnte. Er stand wieder auf, rannte zum Ufer, rannte weiter, Ausschau haltend, suchend. Schlussendlich versuchte er es mit einem der Mauersteine, an dem der zweite Zettel befestigt gewesen war.

Cedric schlug wie wild gegen das Eis. Wieder und wieder und wieder, schier endlos schien es zu gehen, bis er tatsächlich durchbrach. Sofort zogen sich risse durch die kristallglatte Oberfläche, weswegen er zurückwich um der unmittelbaren Gefahr zu entgehen. Doch noch war es nicht genug, der Junge schlug weiter mit dem Stein gegen die angeschlagenen Stellen, bis sich Eisbrocken lösten. Das Loch war geschaffen, doch kaum bestand die feine Linie zwischen Wasser und Luft nicht mehr vollständig, wurde der Körper des Mädchens in die Tiefe gezogen. Cedric reagierte rechtzeitig und griff im kalten Wasser nach der jungen Frau. Mit Mühe zog er sie aus dem See, unerklärlicherweise war sie nicht durchgefroren, sondern fühlte sich.. warm an, als hätte ein Zauber auf ihr gelegen, der sie beschützte. „C-Ced?“ Langsam öffnete sie die roten Augen. Cedric atmete erleichtert aus. Ihr ging es gut. Ihr ging es tatsächlich gut! „Komm.“, flüsterte er leise, „Wir müssen hier weg.“ Das Eis brach glücklicherweise nicht weiter ein, das Loch blieb konstant. Noita konnte sich kaum aufrecht halten, weswegen der Junge sich entschloss sie auf dem Rücken zu nehmen. In kürzester Zeit war auch er durchgefroren, die nassen Klamotten des Mädchens durchtränkten ihn nun ebenso. Doch zumindest war der rätselhafte Hüne verschwunden. Sie erreichten zusammen das Ufer, gingen weiter, suchten sich den Weg hinaus aus dem Wald. Cedric konnte jedoch erst beruhigt aufatmen, nachdem sie den Nebel erneut passiert hatten. Wie ein Ring hatte er sich um das kuriose Spielfeld gezogen. Vorsichtig ließ Cedric das Mädchen runter zu Boden kommen. „Alles in Ordnung?“ Noita nickte, blass wie sie war. „Wie hast du mich gefunden?“, flüsterte sie. Cedric strich ihr sanft über den Kopf. „Ich musste nur alle Zettel finden.“ Er stockte, hielt mitten in der Bewegung inne.

Alle Zettel.

Er hatte nur fünf in der Hand gehabt, als er Noita im Eis fand.

Fünf, nicht acht.

Seine Augen weiteten sich vor Schreck, als er realisierte was dies bedeutete. Bedeuten konnte. Nein. Bitte nicht.

Er rannte los, ließ Noita zurück.

„RAAAAAAAAAAAAAAAAAAAN!“, brüllte er in die Nacht. Wo war der Nebel, der ihn dorthin zurückbrachte?! „RAAAAAAAAAAAAAAANN!!!!“ Cedric hastete weiter, brüllte sich die Seele aus dem Leibe, doch niemand antwortete. Er hörte den Schrei eines Mädchens, wusste nicht ob dies Realität war, ob es Ran’s Stimme war, die nach ihm rief oder ob es nur reine Einbildung war, ein Horrorszenario das sich sein Verstand ausmalte um ihn zu quälen.

Keine Nebelwand, keine Spur des Sees, keine Zettel.

Nichts.

Nichts als der normale Wald, wie er hier schon seit Ewigkeiten wuchs.

Cedric fiel auf die Knie, als er begriff.

Er hatte das Spiel verloren.

Und somit das Wichtigste, was es in seinem Leben gab. Gegeben hatte.

Sie.